Der Knall
Ein ohrenbetäubender Knall weckte Lea aus ihrem geliebten Powernapping. Vor Schreck zuckte sie dermaßen ungelenk auf ihrem Ballstuhl zusammen, so dass sie mit einer Hand an die Tasse mit kaltem Katzenkaffee stieß. Bevor sie einschlief, trank sie etwa ein Viertel des noch zu heißen Inhalts und ließ den Rest auf dem Tisch stehen. Lea hatte sich die Zungenspitze verbrannt, da sie nicht damit rechnete, dass der Kaffee so brutal heiß sei, als ihr Kollege Jens diesen mit einem schönen Gruß vom Chef kredenzte. Jetzt ergoss sich das Edelgesöff über den Akten, die für ein wichtiges Meeting bestimmt waren. Hinter ihr ertönte Till-Theodors schallendes Gelächter, das sich nach einer irren Geräuschkulisse anhörte. Es klang nach einer Mischung aus Donald Ducks Geschnatter, dem defekten Lachsack aus ihrer Kinderzeit, dem quiekenden Meerschweinchen ihrer Nichte Mia und der Kultstimme von Lord Helmchen aus Spaceballs.
So hatte sie sich das Erwachen nach der Mittagspause nicht vorgestellt. Ihr Chef, Till-Theodor Johann Wolfgang Maria von Cato, hatte sich still und heimlich von hinten angeschlichen, um einen Luftballon genau hinter ihrem Kopf zum Platzen zu bringen. Sie träumte gerade in jenem Moment, dass sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. Da platzte dieser Luftballon und holte sie in die bittere Realität zurück. Kein Preis. Kein Beifall. Keine überschwängliche Rede. Keine Stresspickel oder hecktische Flecken im Gesicht. Nichts. Nur ein lauter Knall hatte sie geweckt. Für solche Momente liebte sie ihren adeligen Chef innig, denn er geizte nicht, wenn er seinen Verlagsangestellten ein P wie Panikattacke ins Lektoren-Gesicht zaubern konnte. Sie hätte ihm in jenem Moment die hübschen grünen Augen auskratzen oder ihm beherzt in den Schritt greifen können, aber sie versuchte es mit Contenance und lächelte ihn extrem freundlich an. Sie benahm sich so, als wäre überhaupt nichts passiert. Diese Reaktion hatte er absolut nicht erwartet und hoffte deshalb insgeheim immer noch auf einen zeitverzögerten schrillen Aufschrei.
Seit Tagen spürte er ganz deutlich, dass sie ihm wohl auf die Schliche gekommen sein musste. Lea hatte sein Geheimnis entdeckt. Sie wusste, dass er es nun wusste, aber sie schwieg und spielte die Unschuld vom Lande. Deshalb testete er in jenem Augenblick des Schabernacks ihr Verhalten ihm gegenüber. Ihr Lächeln setzte ihm zu. Außer, dass er durch sein Handeln wenige Minuten zuvor bei ihr ein dezentes Herzrasen auslöste und es anschließend in ihrem linken Ohr enorm pfiff, war wirklich nichts Dramatisches geschehen. Das Knalltrauma würde sie überleben, aber auch die Unterbrechung des Traums. Nur die weiße Businessbluse sah aus, als hätte sie mit einem Kuhfladen Bekanntschaft gemacht, aber Lea blieb völlig cool. Ihr Lächeln fror nicht ein. Ganz im Gegenteil. Sie wirkte wie ferngesteuert. Durch sein abgrundtiefes Lachen erlitt Till-Theodor einen kleinen Asthmaanfall. Blitzschnell griff er mit der rechten Hand in seine Hosentasche, um nach seinem Asthmaspray zu greifen. Danach sprühte er sich, inhalierte die lebensrettende Dosis völlig routiniert und gönnte sich mit fünfminütigem Abstand noch einen zweiten Hub. Um den Mund herum schimmerte seine blasse Haut leicht bläulich, aber Lea wusste, dass er nicht sterben würde. Jetzt nicht. Sie zog derweil wie in Zeitlupe aus der Schublade nacheinander Kosmetiktücher aus der Box, um diese als kleine Flugobjekte auf dem Schreibtisch landen zu lassen. Sie wirkte dabei völlig tiefenentspannt und überhaupt nicht panisch. Die mit Katzenkaffee benetzten Unterlagen bekamen einen kleinen Hügel aus vollgesogenen Kosmetiktüchern.
Till-Theodor stand inzwischen vor ihrem Schreibtisch und bekam wieder Farbe ins Gesicht. Lea ging derweil in die Offensive. Sie sah ihm tief in die Augen und fragte ihn, ob er vielleicht noch ein weißes Hemd für sie hätte. Dabei sah sie ihn an, als gäbe es kein Morgen mehr. Für diverse Kantinen-Notfälle hatte er immer zwei bis drei Hemden auf Vorrat in seinem Büro. Lea hätte ihn beim Fragen nicht unverschämt lasziv ansehen sollen. Ihr Chef bekam plötzlich Schnappatmung und setzte sich sicherheitshalber unverzüglich auf den Besucherstuhl. Dabei hatte er doch überhaupt noch nicht die Dokumente für das Meeting gelesen. Allerdings war sie dabei die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen, um auszuprobieren, ob sie nur mit einem BH unter dem Blazer ins Meeting könne, falls Till-Theodor kein weißes Hemd für sie hätte. Er war nun wie unter Droge.
Vielleicht bekam ihr Chef zu wenig Sauerstoff, versuchte aber keine weiteren Maßnahmen gegen seine Unpässlichkeit zu ergreifen. Das Asthmaspray wirkte, vermutete Lea, aber sein Kopf war trotz alledem nicht bei der Sache. Daraufhin lächelte sie ihn zunächst besorgt an, dann aber doch eher dreist und sendete eindeutige Signale. Till-Theodor dachte nur noch an das eine. Er wusste nun, was ihn erwarten würde. Überall hatte er schon danach gesucht. Sein ganzes Leben würde sich ändern. Zwanzig Jahre Doppelleben könnten durch sie ans Tageslicht kommen. Till-Theodor schrieb unter Pseudonym Literatur, die seine Mutter Maria Hubertine Belinda Katherina Krimhild von Cato, Freiin von und zu Gut Böse, nicht einmal mit spitzen Fingern anfassen würde.
Er starrte unentwegt auf Leas Dekolleté und sein Röcheln entwickelte sich zu einer ernstzunehmenden Situation. Zwischen ihren Brüsten hing an einer goldenen Kette ein USB-Stick in Buchform. Kleine Brillanten funkelten auf dem Büchlein. Sie war tatsächlich an seine Dateien gelangt, aber auf diesem Stick waren ganz andere Schweinereien abgespeichert. Sie stammten aus dem Darknet für Schriftsteller. Er glaubte, dass sein ganzes Leben an dieser Kette hing. Es war wie ein letztes Aufbäumen. Till-Theodor sprang wie in Todesangst getrieben vom Stuhl hoch und tat so, als solle sie für ihn den Notruf wählen. Lea stellte sich blöd und sah ihn nur mit großen Augen an. Dann rang er spektakulär nach Luft, denn er hatte nicht umsonst drei Jahre Schauspielunterricht genossen. Er taumelte und fiel direkt mit dem Gesicht zwischen ihre Brüste. Ausgiebig konnte er diese Situation nicht nutzen, denn beide stürzten zu Boden. Lea griff während des Sturzes reflexartig nach einem schweren Bildband, der auf ihrem Schreibtisch lag. Alle Mühen und Qualen im Fitnessstudio zahlten sich anscheinend aus. Er fasste derweil zwischen ihre Brüste, aber bevor Till-Theodor den Stick entwenden konnte, schlug sie tollkühn zu. Sein vorgetäuschtes Röcheln endete in unerwarteter Bewusstlosigkeit. Lea zog sich beim Sturz leichte Prellungen zu, aber sie behielt die Kontrolle in jener heiklen Situation.
Die Halskette mit dem USB-Stick zog sie in Windeseile aus. Anschließend versteckte sie das kleine Büchlein in einer Buchattrappe auf dem Regal, das hinter ihrem Schreibtisch stand. Das Versteck würde keiner entdecken. Dieses Buch würde niemand ausleihen - zu langweilig und zu unbedeutend. Till-Theodor lag immer noch regungslos auf dem Fußboden. Lea reagierte endlich. Ihre Atemspende entpuppte sich allerdings als inniger Kuss. Sie wollte ihren Chef beim letzten Atemzug lieber noch ein bisschen Liebe spenden, als ihm einen Rippenbogen zu brechen. Zumal sie wusste, wie toll er in Wirklichkeit schrieb. Sie hatte alle seine erotischen Romane gelesen, die er unter Pseudonym verfasste. Sein Schreibstil zog sie magisch an. Er schrieb auf hohem Niveau mit viel Gefühl und intellektuellem Anspruch. Ihn drängte derweil die Angst, dass durch Lea die feine Gesellschaft erfahren könnte mit welchen Büchern er große Erfolge erzielte. Sie küsste ihn sehr leidenschaftlich und er ließ sich wie in einem seiner Romane von ihr erobern. Zehn Minuten später gab es einen Schwelbrand durch eine defekte Steckdose. Feueralarm wurde ausgelöst. Chaos brach aus. Beide verharrten in einer eindeutigen Pose, würde man später in den Social Media lesen.
© Corina Wagner, 2017
Kommentare 6
Liebe CORINA Wagner, gerne gelesen. Danke. Wirklich eine schoene humorvolle Geschichte mit vielen schrill - komischen Momenten auf die man erst einmal kommen muss. Wuensche Dir noch einen schoenen Sonntag.
Viele Gruesse
poor on ruhr
Lieber Poor,
vielen Dank für deinen Kommentar. Fein, dass sie dir gefällt. :-)
Es freut mich immer zu lesen, wenn anderen Menschen meinen Humor mit mir teilen.
Ich wünsche dir auch einen schönen Sonntag und einen guten Wochenstart!
Herzliche Grüße
Corina
Liebe Corina,
ich bin noch nicht wirklich in D angekommen, um "powernapping" zu verstehen. In Panama habe ich davon noch nicht gehört. Kannst Du mich aufklären? Habe ich etwas Ernsthaftes in meinem Leben verpasst? Sollte ich vielleicht auch "powernapping" üben und probieren, um einen klaren Blick für deutsche Wirklichkeit zu bekommen?
Ich habe bisher etwa 500 bis 600 Menschen in Wohnungen, auf der Strasse, in Geschäften, im Bus, an der Bushaltestelle, auf öffentlichen Plätzen usw., nicht aber auf Toiletten interviewt und um Unterschriften zu meiner Direktkandidatur angegangen, "powernapping" ist mir dabei nicht untergekommen. Bitte hilf mir mit meiner Unkenntnis aus. Ich brauche Dich! Habe allerdings kein Asthma und diesbezüglichen Spray. Fasse auch Frauen nicht unaufgefordert an die Brüste. Lasse auch nicht unvermutet Luftballons platzen, um meine Mitmenschen aus der Fassung zu bringen. Wenn schon, dann mit der Frage, ob sie meine Kandidatur mit einer Unterschrift unterstützen wollen. Dabei kann es zwar passieren, dass Frauen der Mund offen stehen bleibt, sie aber nicht derart die Contenance verlieren, dass sie sich bekleckern und sich anschliessend an mir rächen möchten. Eher kommt es dann zu einer Einladung in die gute Stube und einem gehaltvollen Schwätzchen, oder aber es kommt zu einem unwirschen: "Lassen Sie mich in Ruhe! Ich glaube und hoffe nichts mehr im Leben, habe ja sowie so nicht mehr lange zu leben". Also, erotische Freuden entstammen für sie einer gänzlich entschwundenen Vergangenheit, dass sie unvorstellbar geworden sind. Aber nicht für Dich, und das spricht für Dich.
LG, Hermann
PS: Gruss an die gesamte Ulmer-Bande.
Lieber Hermann, Powernapping fördert angeblich gerade am Mittag die Konzentration und ist nichts anderes als ein kurzes Mittagsschläfchen, ein Nickerchen, das nicht länger als eine halbe Stunde dauern soll. Wenn man länger schläft, dann entfällt der Erfolg der gewünschten Konzentrationsfähigkeit, so habe ich gelesen. Deshalb ist es wichtig, nur kurz zu schlafen und sich von der Arbeitswelt eine Auszeit zu nehmen. Die meisten, so vielleicht auch du, kennen es vermutlich, wenn man sonntags nach dem Mittagessen auf dem Sofa einschläft und dort länger als eine Stunde ausruht, will man meistens nicht mehr aufstehen. :-) Ich hatte aufmerksam deinen interessanten Artikel über die Unterschriftenaktion für deine Direktkandidatur gelesen. Da kann man wahrlich vieles, Unglaubliches erleben, wenn man im Einsatz ist, um mit Menschen zu reden, die vielleicht beim Thema Politik resignieren, sich eventuell ertappt fühlen und ja nicht selbst darüber nachdenken wollen, mit dir keineswegs auf der Straße oder an der Haustür debattieren wollen. bequemerweise vielleicht lieber „nachblappern“, was andere ihnen tagtäglich vorsagen. Es ist nicht einfach, wenn man sich unters Volk mischt, um die Zukunft mal aus einer anderen Sicht zu beleuchten, seine Meinung sagt und Alternativen aufzeigt, die es auch noch gibt. Ich wünsche dir einen stressfreien Tag, wo auch immer du diesen verbringst… Herzliche Grüße Corina PS. Grüße richte ich der Ulmer-Bande aus, wenn ich sie am Abend sehe. ;-)
Liebe Corina,
es ist auf jeden Fall eine Bereicherung, eine deutsche "Seelenwanderung" zu veranstalten, wenn es auch nur etwa 600 Seelen im Weserbergland waren, von denen beileibe keine 200 begeisterte Unterstuetzer einer Buerger-Macht sind, allenfalls unter dem Tisch Unterstuetzung erkennen lassen.
LG, Hermann
Lieber Hermann,
diese Erfahrung "Seelenwanderung", die manchmal vielleicht ein bisschen holprig, beschwerlich und anstrengend war, hat aber sicherlich durch einige durchaus gute Gespräche dir Sympathien gebracht und ist sicherlich eine unvergessliche Bereicherung.
LG, Corina