Nichts für schwache Nerven ...

CoLyrik Spannend oder langweilig? Zu brutal? Eine Kurzgeschichte, die im grauenvollen November zumindest zur Abschreckung dient. Wer gratuliert schon einem Serienmörder?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eingemachtes

Gestern lockte der Fund einer Frauenleiche wieder die Pressefotografen in den nahegelegenen Stadtwald. Es war ein ätzender Novembertag, dessen Kälte durch Mark und Bein zog, wenn man zulange draußen stand. Wieder wurde eine verstümmelte Frauenleiche durch einen Spaziergänger entdeckt, der zunächst nur eine Hand des Opfers fand. Den Rest der entsetzlich zugerichteten Leiche wurde nach einer kurzen Suche von Beamten unweit der Fundstelle sichergestellt. Der gesuchte Täter hatte mit einer massiven Brutalität sein Opfer getötet. Kein Einzelfall in dieser Region und bot Anlass eine E-Mail zu verfassen.

Lieber grausamer Freund,

etliche Monate hatte ich kein Lebenszeichen mehr erhalten. Schon lange fehlte mir ein Wink mit einer eiskalten Hand. Gestern fand ich unweit eines Wanderparkplatzes ein Indiz dafür, dass Du wieder in der Region aktiv bist. Du bist ein echter Naturbursche, der allerdings immer für brutale Überraschungen gut ist, wenn Du im Freien nicht nur die auffallend schöne Natur entdeckst. Beim Anblick jenes grausamen Fundes fiel mir spontan ein, dass ich inzwischen seit über zwanzig Jahren Deinen Werdegang, schlicht Deine Spur verfolge.

Heute möchte ich Dir gratulieren. Du bist der einzige Serientäter, der spektakulär und gewissenhaft arbeitet. Nach meinen Recherchen darf ich Dir heute zu 25 Jahren gratulieren, in denen Du Dir einen guten Namen als Serienmörder gemacht hast. Deine Art des Mordens ist bislang nicht zu toppen und einzigartig in der Kriminalgeschichte. Viele Pathologen, Polizeipsychologen und Kollegen hatten seither über viele Jahre hinweg, dank Deiner umtriebigen Art und Weise, einen interessanten Job, der manchmal auch zu spontanen Magenbeschwerden führte. So auch gestern wieder. Leichenblässe findet man nicht nur bei Deinen Opfern, von denen meist nicht viel übrig bleibt, sondern auch bei jungen Polizisten. Deinem Spleen stets eine linke Hand auf einen Wanderweg abzulegen, jenem bist Du bis heute treu geblieben. Du mordest fast immer nach dem gleichen Muster. Im Laufe der Zeit wurdest Du nur dezent brutaler. Ich hoffe, dass ich Dich bald persönlich kennenlernen darf und dies ganz offiziell. Vor Dir habe ich keine Angst. Absolut grausam bist Du nur zu anderen, wenn Du sie zuvor mundtot gemacht hast.

Endlich habe ich bald viel mehr Zeit, um zu erforschen, warum Du so tickst, wenn der Vollmond am Himmel steht. Nächste Woche werde ich aus dem Dienst scheiden. Der diensthabende Arzt bescheinigte mir ein starkes Burnout-Syndrom, nichts Ungewöhnliches bei einem engagierten Kommissar. Dann habe ich explizit Zeit, um über Dein großes Schaffen bis ins kleinste Detail nachzudenken. Im Moment träume ich von einer Autorenkariere. Damit mir die kriminalistische Auszeit nicht zu langweilig wird, werde ich ein Bestien-Manuskript verfassen und Suizid als mögliche Option im Blick auf uns Beide thematisieren. Ob es ein Besteller wird, möglich wäre es.

Da bei allen Leichen bislang nie die Zunge gefunden wurde, denke ich, dass Du diese irgendwo quasi als Trophäe aufbewahrst. Mein Instinkt sagt mir schon lange, wo Du diese versteckst. Nur Du kennst die tragischen Hintergründe, warum dies so ist. Ich denke spontan an Dein erstes Opfer. Meine geliebte Schulfreundin Maria, die Du wegen dem Hass auf Deine Mutter bis zu Tode quältest. Ich werde ihren misshandelten Anblick niemals vergessen. Viele Polizeipsychologen rätseln seit Jahren, warum Du ausgerechnet die Zunge von Deinen Opfern aufbewahrst. Seit Jahrzehnten könnte ich dieses ekelige Rätsel lösen, doch die überirdische Kraft des Schweigens hielt mich bis jetzt zumindest immer davon ab. Wer einmal Deine keifende Mutter hörte, kann Deine Wut auf Frauen verstehen. Wir sind wie eine Symbiose, wenn ich daran denke.

Nach meinen Ermittlungen fehlte Dir bis vor einigen Tagen nur noch eine Zunge, um auf eine Stückzahl von Fünfzig zu kommen. In den vergangen Jahren bist Du ruhiger geworden. Vielleicht liegt es auch an Deinem fortgeschrittenen Alter.

Was für ein Jubiläum?

55 Leichen in 25 Jahren! Ich gratuliere mit einem eiskalten Schauer auf dem Rücken, der allen Menschen herunter läuft, die mit Deinem mörderischen Tun und Handeln konfrontiert werden.

Seit Jahren vermute ich, dass Du mit mir verwandt sein könntest, aber meine innere kluge Stimme sagt mir, dass diese Meinung schlecht für mein berufliches und gesellschaftliches Image sei. Schließlich bin ich inzwischen Kommissar, der bislang immer vorbildlich agierte.

Außerdem führte ich jahrelang in meiner knapp bemessenen Freizeit ehrenamtliche Tätigkeiten durch. Jetzt habe ich viel Zeit zum Nachdenken. Alles wird gut, wenn ich nun die vielen Stunden zu Hause verbringen kann, da der Arzt meinte, dass ich nicht so schnell wieder im Polizeipräsidium zum Dienst erscheinen würde. Gut investierte Zeit für mehr Ehrenamt und Dich, dem Serienmörder. Wer würde freiwillig das Amt des Vorsitzenden der Hobbyschlachter hier im Ort weiterführen? Wenn nicht ich, der nun sogar vom Dienst fernbleiben kann. Manfred Kalb, der depressive Tierarzt etwa? Und auch nicht Otto Hirsch, der Jäger mit dem posttraumatischen Erscheinungsbild.

In immer kürzeren Interwallen spüre ich dieses bestialische Gefühl, als wüsste ich genau, dass Du ein Zwillingsbruder von mir sein könntest. Nachts erwache ich nicht selten total schweißgebadet und merke ganz grässlich, als sei ich hautnah das mörderische Wesen in Dir. Meine Träume führen mich immer wieder zu meiner eigenen Nase, die Deiner ähnelt und den süßlichen Leichenduft von Frauen inhaliert. Bis heute konnte ich es vor meinen Kollegen verheimlichen, dass ich es total mag, wie Du Deine Opfer zu Tode quälst. Warum fühle ich so? Weil ich Deine Mutter seit meiner Geburt kenne? Warum kann ich mich mit Dir identifizieren? Weil ich das Öffnen des Vorratsschrankes im Keller meines Elternhauses liebe?

Du kennst die schreckliche Antwort. Stimmt’s?

Dein stiller Beobachter

© Corina Wagner, November 2012

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Corina Wagner

Wer das Wort Alphabet buchstabieren kann, ist noch kein/e Autor/in. (C.W.)

Corina Wagner

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden