Europäische Identitätsfindung

Schäubles Europa Europa der politischen und ökonomischen Eliten

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Liebe dFC,

seit "Stunden" versuche ich die erste Folge des untenstehenden Beitrags mit Fotos einzustellen. Aber ich habe keinen Erfolg. Nun denn, vielleicht gibt es in Zukunft eine Erleuchtung. Auf jeden Fall hier der Text, der hoffentlich bald nächste Folgen haben wird. LG, CE

Von der Schwierigkeit einer europäischen Identitätsfindung

Europas Wurzeln reichen bis nach Afrika und Lateinamerika

Folge 1

Noch vor Abebben des Schlussapplauses verließen Pedro und Nada eilig die Aula der Neuen Universität Heidelberg. Sie hatten sich wahrlich nicht wohl auf den hinteren Sitzen gefühlt, obwohl sie dort unter Kommilitonen saßen. Es war das erste Mal, dass sie sich unter Honoratioren aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft befanden. Finanzminister Schäuble hatte dem Alfred Weber Institut für Wirtschaftswissenschaften an diesem Freitagabend des 11. Januars 2013 seine Aufwartung gemacht und der regionalen „Crème de la Crème“ sowie den Studenten seine Lektion (Lecture) erteilt.

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Foto: Wikimedia Commons (7. März 2010), Universität Heidelberg

Mit dessen Schlussbemerkungen über Europa und seinen institutionellen Wandel in den Ohren und auf dem kleinen Aufnahmegerät, das sie bei sich führten, machten sich die beiden Studenten im ersten Semester Volkswirtschaft schleunigst auf den Weg. Zwei der letzten „wohlklingenden“ Zitate, über die sie noch lange diskutieren sollten, waren die folgenden:

„Mancherorts wird bezweifelt, ob sich die spezifisch westliche Vorstellung von wirtschaftlicher und politischer Freiheit gegenüber Systemen behaupten kann, welche die Effizienz und Wettbewerb in der Wirtschaft mit politisch sehr viel stärker gelenkten Systemen verbinden. Dies ist eine Kernfrage des heutigen globalen Wettbewerbs.“

Und:

„Wir Europäer haben gute Chancen in diesem globalen Systemwettbewerb mit unseren offenen Gesellschaften, demokratisch legitimierten Institutionen und rechtstaatlichen Strukturen. Die Effizienz, mit der Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung bewältigt werden, mag vordergründig in anderen Systemen größer erscheinen. Nachhaltigkeit aber birgt allein der Weg der inklusiven Institutionen. Eben darin liegen Chance und Auftrag Europas. Unser Weg mag zwar noch lang sein. Aber es ist ein guter Weg. Und allein dies zählt für Europa.“

Als sie hinaus in die Kälte stürzten, hatten Nada und Pedro nur einen Wunsch: Ein gemütliches Plätzchen in einem der Lokale an der „Alten Brücke“ zu ergattern, wo sie sich bei einem Glas Rotwein aufzuwärmen erhofften.

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Foto: Wikimedia Commons, Heidelberg, Alte Brücke mit Schloss (2005) Autor: Ulrich Oestringer

Der hohe Gast aus Berlin hatte im Rahmen der einmal im Jahr stattfindenden Alfred-Weber-Lecture über „Institutioneller Wandel und Europäische Einigung“ referiert. Für Pedro und Nada sowie andere Studenten war das die Gelegenheit, aus berufenem Mund die „Lobeshymne auf Europa“ zu hören. Pedro und Nada nahmen beide auch an einem Einführungsseminar im Institut für Politische Wissenschaft der Universität teil, in dem Europäische Institutionen analysiert wurden. Für sie hatte das Europa der politischen Parteien und Regierungen längst seine Anziehungskraft verloren. Es schien ihnen, als würden seine Institutionen, einem Elfenbeinturm gleich, hauptsächlich von den wirtschaftlichen und politischen Eliten verteidigt. Kein einziger Normalbürger hatte je auch nur die geringste Möglichkeit der Mitgestaltung dieser Institutionen, denen die Menschen in Europa durch Setzung der Rahmenbedingungen ihres Lebens hilflos ausgeliefert sind. Diese Institutionen wurden im Laufe der Nachkriegszeit durch die beteiligten Regierungen geschaffen und werden durch politische Parteienvertreter aus den EU-Mitgliedsländern nach strengen Proporzregeln verwaltet. Oberstes Interesse ist dabei die Wahrung des Nutzens der europäischen Eliten, welcher den Zivilgesellschaften als gesamtgesellschaftlicher Nutzen aller Europäer vorgegaukelt wurde und wird.

Schäuble ist herausragendes Mitglied dieser Eliten und seit Studienjahren in Freiburg und Eintritt in die Junge Union vor 52 Jahren ein unermüdlicher politischer Rackerer im Auftrag der deutschen Regierung und der hinter ihr stehenden Interessen des deutschen Kapitals, um diese Institutionen den deutschen Bedürfnissen gefällig zu machen. Der Minister identifiziert sich mit diesen Institutionen und Europa insgesamt wie kaum ein Zweiter. Die Studenten waren sich zu schade dafür, länger als irgend nötig der Selbstbeweihräucherung der Eliten und Schäuble beizuwohnen. Sie meinten, in ihrem Seminar über Europa und durch ihr eigenes Selbstverständnis hätten sie genügend Kriterien an der Hand, um den vollmundigen Worten Schäubles nicht auf den Leim zu gehen. Es war schon vorher mit dem Dozenten ausgemacht, dass beim nächsten Seminartreffen vor allem die Rolle des Europaparlamentes und seine Legitimation als Bürgerrepräsentation diskutiert werden sollte.

Das gemütliche Plätzchen in wärmender Kneipe war bald gefunden. Die beiden hatten einen kleinen Ecktisch ergattert, der ihnen eine von den übrigen Gästen ungestörte Unterhaltung erlaubte. Für Nada musste rasch ein „Heilbronner Trollinger“ her. Für sie, die in Neckargemünd unweit von Heidelberg aufgewachsen war, war der Genuss dieses Rotweines vor allem in Winternächten wie geschaffen, um in gute Laune zu kommen. Auch liebte sie es, zum Wein grüne und schwarze Oliven zu verspeisen. Pedro bestellte dasselbe. Seit er von Lissabon nach Heidelberg gekommen war und Nada kennengelernt hatte, wurde er von ihr in die deutschen Essgewohnheiten eingeführt. Beide trafen sich erstmalig zu Beginn des Wintersemesters im letzten Oktober. Er hatte es Nada auf den ersten Blick angetan. Ihm ging es umgekehrt mit ihr ebenso. Jetzt waren sie schon beinahe drei Monate wie unzertrennlich. Immer, wenn es nicht ums Flirten oder um das Studium ging, erzählten sie sich Geschichten über ihre Familien, und diese konnten nicht unterschiedlicher sein.

Die Geschichte Pedros beginnt mit seinem Großvater auf den Kapverdischen Inseln, umfasst den Werdegang seiner Mutter in Lissabon und Rondônia, im brasilianischen Amazonasgebiet, und endet vorläufig in Heidelberg, wo er sich im Wintersemester 2012/13 im Alfred Weber Institut für Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben hatte.

Pedro antwortete oft auf Fragen seiner Herkunft: „Ich weiß selbst nicht genau, wie ich mich einordnen soll. Bin ich Portugiese, Afrikaner, Brasilianer oder Europäer? In meinem Pass wird mir die portugiesische Staatsbürgerschaft bescheinigt. Mein Großvater Joaquím ist weißer Portugiese, wuchs in der ehemaligen portugiesischen Kolonie Kapverde auf, lebte jahrzehntelang im westafrikanischen Guinea-Bissau, bevor er im Alter nach Rondônia umsiedelte. Meine Großmutter ist Luisa, eine Angehörige des Pepelvolkes aus Guinea-Bissau und meine Mutter Lourdes ist farbige Portugiesin. Mein Vater Geraldo ist farbiger Brasilianer aus Bahía in Brasilien. Ich selbst wuchs bis zum 10ten Lebensjahr im Amazonasgebiet unter Indianerkindern auf. Danach besuchte ich auf Betreiben meines Großvaters das deutsche Gymnasium in Lissabon und bekam nach dem Abitur vom DAAD (Deutsch Akademischer Austauschdienst) ein Stipendium zum Wirtschaftsstudium in Deutschland.“

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Foto: Regenwald, Amazonas, Wikimedia Commons (9.9.209), Autor: lubasi

Nada, die Freundin und Studienkollegin von Pedro, hat eine bosniakische Mutter, einen kroatischen Vater und einen deutschen Stiefvater. Die Eltern von Nada, beide aus Mostar in Herzegovina stammend und ehemals Mitglieder der kommunistischen Jugend Jugoslawiens, haben sich in den Kriegswirren Ende 1993 getrennt. Die Mutter, gerade schwanger geworden, schlug sich bis nach Deutschland durch. Obwohl sie aus einer in Mostar alteingesessenen muslimischen Familie stammte, hatte sie die Religion ihrer Vorfahren nie praktiziert. Das war auch ebenso mit ihrem aus katholischen Verhältnissen stammenden Mann. In der kommunistischen Jugend im Nachkriegs-Jugoslawien wuchsen die jungen Menschen weitgehend frei von religiösen Traditionen auf. Erst nach Titos Tod 1980 traten nationalistische Tendenzen und damit auch religiöse Überlieferungen an die Stelle der von der Kommunistischen Partei verfolgten Ideologie eines Sozialismus im föderalen Staat (Vielvölkerstaat). Nadas Vater schloss sich Ende 1993, kurz vor Zerstörung der „Türkischen“ Brücke (Stari Most) in Mostar den Truppen des Kroatischen Verteidungsrates unter Slobodan Praljak an (Wiederaufbau 2004).

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Foto: Türkische Brücke, Mostar (August 1974), Wikimedia Commons

Tschüss, bis hoffentlich bald, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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