"Mutti" und "Kladderadatsch"

Kanzlerkandidaten Womit haben wir "Mutti" und "Kladderadatsch" verdient? Und was haben Walter Jens und Joachim Petrick damit zu tun?

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Ich muss es einfach loswerden!

Gestern hat Joachim Petrick in der dFC einen Beitrag eingestellt, auch zum Gedenken an Walter Jens, der mich selbst beim Strandlauf am Pazifischen Ozean nicht in Ruhe ließ. Dieser handelt von Rhetorik im Heimatland, und wie sie auf den Hund gekommen ist.

W. Jens und J. Petrick brachten mich nicht nur zu einigen ernüchternden Überlegungen über die beiden hervorragenden Kanzlerkandidaten, die ja immerhin das Schicksalsschiff der Deutschen durch kommende Stürme verantwortlich steuern sollen (man höre und staune, dass sie sich dieses Unterfangen selbstverständlich zutrauen), sondern auch über allerhöchste abgehalfterte Volksvertreter der Vergangenheit wie Schröder (im Volksmund Gas-Gerhard), Fischer (heute: Elder Statesman) und Lafontaine (smarter Oskar oder auch Mini-Napoleon vom Saarland).

An diesem Wochenende defilieren die Großkopfeten der LINKEN auf dem Laufsteg ihrer Partei, unter der griffigen und überzeugenden Parole „100 Prozent sozial“, und die Nation glotzt zu. Andere Parteien hatten bereits ihre Primadonnen fürs Fernsehen aufs Parkett geschickt. Die Zivilgesellschaft, immerhin 80 Millionen Deutsche, die nicht Bundestags-Parteimitglieder sind, ist bereits mit der Nominierung der BT-Parteikandidaten und inhaltschweren Parteiprogrammen beschenkt worden. Sie braucht also am Wahltag nur noch abzunicken, um den gesamten Staatsapparat den BT-Parteien anteilig in den Rachen zu schmeißen.

An dieser Stelle eine kleine Zusatzfrage: Wo sind eigentlich die Kandidaten und Programme der Zivilgesellschaft geblieben? Unterwegs verloren gegangen? Sind die 80 Millionen Deutsche es nicht wert, eigene Kandidaten und Programme zu haben. Nun denn, „Mutti“ oder „Kladderadatsch“, beide handverlesen, werden die deutsche 80-Millionen-Chose schon schaukeln. Habt Vertrauen! Der Staat bringt Euch das Glück auf Erden! Zumindest solange und so schön, wie HartzIV und die verarmten Südeuropäer das zulassen.

Jetzt wieder zurück zur Eingangsfrage: Womit haben wir die Letztgenannten eigentlich verdient?

Bevor ich eine Antwort versuche, seien an dieser Stelle zwei Zitate angeführt, von W. Jens und J. Petrick:

1.Walter Jens im Gespräch mit Holger Wilms (Monatszeitschrift „a tempo“, 10/2001) mit dem Titel: „Deutschland erlebt eine rhetorische Baisse“

Auszug: „Wir befinden uns, nicht nur in Deutschland, in einer großen Baisse. Wir können nur träumen von den Zeiten, in denen ein Adolf Arndt oder ein Carlo Schmid dem Parlament Glanz und Würde gaben. Mein Gott, Carlo Schmid. «Herr Abgeordneter Schäfer, ich warne Sie: Machen Sie keine weiteren Zwischenrufe, sonst antworte ich Ihnen!» Esprit! Amüsement! Davon ist nach den unsäglichen Niederungen der Kohl-Ära kaum noch die Rede. Wobei wir sagen müssen, dass der jetzige Bundeskanzler, vor allem im Interview präzise, kenntnisreich und nicht ausweichend seine Stellungnahme abgibt.

Den trennen Welten von Helmut Kohl und seinem «Sie wissen doch genauso gut wie ich ... », dem ewigen Sich-nicht-stellen-wollen. Ein solcher Mann wäre in Amerika von den Journalisten davongejagt worden: «Sie haben unsere Fragen dreimal nicht beantwortet, ein viertes Mal fragen wir nicht!» Das war schon eine Zeit unsäglicher rhetorischer Baisse, überwunden durch ganz wenige Einzelne wie zum Beispiel Joschka Fischer in seiner Glanzzeit.“

Vor dem nächsten Zitat kann ein Einwand gegen W. Jens nicht ausbleiben. Mit Uns-Kohl hat er den Nagel auf den Kopf getroffen, bei Schröder und Fischer hat er m. A. n. meilenweit daneben getroffen. Allerdings trifft W. Jens daran nur bedingte Schuld, denn er betrachtet diese beiden politischen Figuren hier einseitig im Sinne der „reinen“ Rhetorik. Ich habe J. Petrick bereits zu denken gegeben, dass reine Rhetorik in der Zivilgesellschaft dann nicht mehr mehrheitsfähig ist, wenn Authentizität, d. h. Übereinstimmen von Wort und Tat, und Empathie für die zu Repräsentierenden, leere Worthülsen bleiben. Das haben Schröder und Fischer bei ihrer Abwahl zu Recht zu spüren bekommen. „Mutti“ war trotz ihrer eindeutigen gehaltlosen Rhetorik für den Wähler glaubwürdiger, eben weil sie im Gegensatz zum selbstsüchtigen Machthunger von Schröder und Fischer geschickt das Image der sorgenden Mutti in den politischen Ring schmiss, mit dem sie den Michel bis heute auf quälende, inhaltsleere Weise an der Nase herumführt.

Ich möchte behaupten: Für Politiker muss der Anspruch gelten: Rhetorik aus dem Geist und dem Herzen zu entwickeln; und das heißt weiter, dass Rhetorik aus der Übereinstimmung des Wortes und der solidarischen Tat geboren werden muss.

Dazu nur zwei derzeitige Beispiele in der Weltpolitik: Mandela und Suu Kyi. Bei beiden waren und sind sich die Menschen in ihren Ländern gewiss, dass Rhetorik durch Authentizität, Empathie und auch Selbstlosigkeit fundamentiert ist. Kennen wir Politiker dieses Kalibers in der deutschen Geschichte?

2. J. Petrick in seinem gestrigen Beitrag in der dFC (14.6.2013):

Letzter Abschnitt: "Wo ungehaltene Reden, ausgelassene Argumente, das Abwerten des Gegenübers im Dienste asymmetrisch demobilsierender Überredungskunst, statt authentischer Überzeugungskraft im Namen der Res Publica, als Eintrittkarte in höhere Weihen von Parlamenten, Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Stiftungen, Verbänden, gelten, fristet die Rhetorik, aus der gesellschaftlichen Mitte geworden, am gesellschaftlichen Rand, haltlos dahinwelkend, marginalisiert, ein Mauerblümchen Dasein für fade schmeckende Festtagsreden.

Hier noch einmal die Eingangsfrage: Womit haben wir „Mutti“ und „Kladderadatsch“ verdient?

Die Antwort liegt eigentlich schon auf der Hand: Wir haben beide verdient, „Mutti“ und „Kladderadatsch“, weil wir so sind, wie wir sind. Weil wir auf authentische Rhetorik, aus Menschlichkeit geboren, nichts mehr geben. Entweder sind wir dusselig gemacht worden durch den Konsumterror der Nachkriegszeit, der über nichtssagende, ständig wiederholte Reklame den Untertanen-Bürger bombardiert (wie Merkel die Union verkauft mit dem Slogan: „Wir, der Unions-Staat, wird es schon richten!“ d. h. Mutti wird es richten.) oder wir fallen auf Politiker herein, die Empathie vorgeben, um die Gunst der zweiten, ausgegrenzten Hälfte des Volkes zu gewinnen (Steinbrück, der in der gesamten abgelaufenen Legislaturperiode zigmal wohldotierte Reden vor Unternehmern und Bessergestellten gehalten hat, aber nicht einmal vor Menschen, die Solidarität in der Tat dringend gebraucht hätten).

Nun zum Schluss etwas zu Oskar und der Linken, und das im Konditional:

Oskar Lafontaine ist zweifelsohne nicht nur intelligent, sondern ebenso ein gewiefter Rhetoriker. Er weiß genau, dass beide, der heutige Kapitalismus und der bürokratische Sozialismus, keine politischen und wirtschaftlichen Zukunftssysteme für die Menschheit darstellen. Wenn er, wie ein Mandela oder eine Suu Kyi, mit Bescheidenheit, Demut und einer Rhetorik, die auf Authentizität, Menschlichkeit und Skizzierung von Visionen beruhte, heute als unabhängiger Kanzlerkandidat antreten würde, dann würde ihm wahrscheinlich die Mehrheit der deutschen Zivilgesellschaft folgen, und wir könnten auf die beiden mediokren Kandidaten pfeifen. Da er aber, wie viele seiner Parteigenossen, hinter einer aufmüpfigen Fassade einen kleinen Napoleon und einen großen Lebe-Acker-Mann verbirgt, kommt er aus seiner „Hofnarren-Rolle“ für das deutsche Herrschaftssystem, das sorgfältig die Interessen der wirtschaftlichen und politischen Oligarchie absichert, nicht heraus.

Wann wird der deutsche Untertan zum Bürger?
Noch ein schönes "Linke-Wochenende"!

LG aus Panama, CE

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Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

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