Erinnert die Täter

Erinnerungsarbeit Über die Leere im Herzen der deutschen Erinnerungskultur

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Vergangenes Wochenende war ich in Kraków, eine wunderschöne Stadt, in der man das untergegangene Europa spürt. Eine kurze Zugfahrt entfernt liegt Oświęcim, zu deutsch Auschwitz, wo am selben Wochenende die Gedenkfeier zum 79. Jahrestag der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee stattfand.

Es sprachen unter anderem die Holocaust-Überlebende Halina Birenbaum, der israelische Botschafter, die Sprecherin des polnischen Senats.

Die Gruppe der Zaungäste, die nicht zu den offiziellen Feierlichkeiten geladen waren, aber dennoch den Opfern gedenken wollte, war klein. Es gibt eben schönere Orte als Auschwitz-Birkenau in einer kalten Januarnacht.

Am Tag zuvor hatte ich mich mit einer deutschen Besuchsgruppe durch die Lager I und II führen lassen. Zuletzt war ich als Jugendlicher dort gewesen. Aber es kommt mir nicht lange her vor. Ein polnische Dame erzählte mit versteinertem Gesicht und monotoner Stimme von Dingen, die nicht hätten geschehen dürfen. Und weil das, was man sieht, eigentlich nicht wahr sein darf, ist man versucht, es nicht an sich heranzulassen. Da dies wiederum falsch wäre, lässt man es in sich hinein, aber auch das kann nur für eine kurze Zeit gelingen, zum Zusammenbrechen ist nämlich keine Zeit, hier sind noch Fotos, da noch Schuhe, und dort war übrigens das Laboratorium von Mengele.

Unsere Gruppe deutscher Besucher wandelte wie Touristen durch die verbrannte Landschaft ihrer eigenen Geschichte. Es gab interessierte Fragen, betroffene Blicke. Aber wir hätten auch aus Island oder Neuseeland kommen können, so unpersönlich war es. Ich dachte: Eigentlich müsste, wer in eine nichtjüdische deutsche Familie geboren ist, gar nicht nach Polen fahren, um über den Holocaust zu lernen. Zuhause nachfragen ist mitunter ergiebiger. Das Familienalbum auf dem Dachboden ist näher dran als Kraków. Aber es wird nicht aufgeschlagen.

Die Leere im Herzen der Erinnerungskultur

Michel Friedman, Kind von Eltern, die auf Schindlers Liste standen, dessen Fabrik sich übrigens auch in Kraków befindet, verwehrt sich in diesen Tagen vehement der Annahme, dass Deutschland so etwas wie eine Erinnerungskultur überhaupt habe. Von einer Erinnerungskultur könne man nämlich nicht reden, wenn in den gewöhnlichen deutschen Familien der Täter, der Zaungäste, der Möglichmacher, das Schweigen über die Generationen weitergereicht und nicht aufgebrochen wird.

Vor vier Jahren gab die ZEIT eine Befragung in Auftrag, um zu erfahren, wie in deutschen Familien dem Nationalsozialismus gedacht wird. Die Ergebnisse sind beängstigend. Knapp zwei Drittel der Studienteilnehmer stimmten der Aussage zu, dass ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern während der NS-Zeit keine nationalsozialistischen Verbrechen begangen hätten. Nur 3% meinten, dass der Großteil ihrer Familie Befürworter des Nationalsozialismus gewesen wären. Demgegenüber waren 30% der Meinung, dass die eigene Familie in Gegnerschaft zum Regime gestanden hätte. Erstaunliche Zahlen, wissen wir doch, wie gering der Widerstand gegen das NS-Regime gewesen war und dass eine Mehrheit der Deutschen bis zum Ende den NS-Staat befürwortet hatte.

Von den Tätern lernen

Am Mittwoch gab es im Bundestag eine Gedenkstunde. Die gibt es jedes Jahr am oder um den 27. Januar herum, dass übrigens erst seit 1996. Es hatte lange gedauert, bis man den Opfern zuhören wollte. Im Bundestag sprachen die Überlebende Eva Szepesi und der Sportmoderator Marcel Reif, dessen Vater als polnischer Jude den Holocaust überlebt hatte.

Es ist gut, dass es diese Gedenkstunde im Bundestag mittlerweile gibt, genauso wie es gut ist, dass Menschen aus Deutschland nach Auschwitz fahren. Aber um zu verstehen, wie und warum wenige Generationen zuvor die Menschen in diesem Land zu Agenten des Unfassbaren wurden, reicht es nicht, betroffen durch Auschwitz zu wandeln, oder den letzten Überlebenden zuzuhören. Es ist auch nicht die Verantwortung der Nachfahren der Opfer, den Nachfahren der Täter ihre Geschichte zu erklären. Ausserdem kann man von Tätern mehr lernen. Schliesslich geht es um die Frage, wie ganz gewöhnliche Menschen dahinkamen, an einem Verbrechen mitzuwirken, dass so ungewöhnlich war, dass es häufig mit dem Adjektiv singulär beschrieben wird.

Wie wäre es, wenn zum Beispiel in den Schulen familiäre Täterforschung in den Lehrplan gehoben würde? Und wie wäre es, wenn nächstes Jahr im Bundestag auch Niklas Frank eine Rede hielte, dessen Vater von 1939 an das von Deutschland besetzte Polen einer Schreckensherrschaft unterzog? Seinen Amtsitz hatte der grausame König von Polen übrigens in der Wawel-Burg von Kraków, die auch heute noch an der Wisłą über die Stadt wacht. Es ist, wie gesagt, wirklich sehr schön dort.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Marwecki

Dozent für Internationale Beziehungen an der University of Hong Kong

Daniel Marwecki

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden