Irgendwie wird Mama Staat es schon richten

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wie wir zu den anwachsenden Kosten im Gesundheitswesen beitragen.

Ich kenne kaum reiche Leute. Einer von ihnen konnte sich ein wunderschönes Haus in bester Stadtrandlage bauen. Dort habe ich ihn vor kurzem besucht. Es geht ihm gesundheitlich nicht gut. Er leidet an Magenproblemen aber die aufgesuchten Ärzte konnten keine organische Ursache finden. Deshalb hat er sich zu einer Therapie entschlossen. Sein erster Therapeut warf ihm in ihrem zweiten Sondierungsgespräch an den Kopf, sein Problem sei, in seinem Leben nie ernsthaft gearbeitet zu haben.

Mein Bekannter war über diese Schnelldiagnose noch immer hellauf empört. Er geht auf die sechzig zu. Nach seiner Erzieherausbildung hatte er in Westberlin Psychologie studiert. Sein Institut war bekannt, für engagierte Linke zu sorgen. Mit den dort vermittelten Ansprüchen wollte er den elterlichen Betrieb umgestalten. Seine Mutter und seine Brüder gingen nach einer Weile auf die Barrikaden. Schließlich einigte man sich, ihm seinen Vermögensanteil auszuzahlen.

Finanziell ohne Sorgen gönnte er sich eine Ausbildung zum Schauspieler. Seit einigen Jahren kultiviert er seine künstlerische Seite. Einige seiner Fotos waren schon in mehreren Ausstellungen zu sehen.

Sein Freund ist wesentlich jünger. Ob er eine Ausbildung oder ein Studium beendet hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich bezieht er aufgrund seiner HIV-Infektion die Grundsicherung. Beide sind wache, aufgeschlossene Menschen und interessieren sich sehr für psychologische und gesellschaftliche Fragen. Der Jüngere betreibt exzessiv Bodybuilding und hat sich einen beeindruckenden muskulösen Körper erarbeitet. Vor kurzem hatte er eine Panikattacke und musste in ein Krankenhaus gebracht werden. Nach diesem Zusammenbruch gestand er seinem Freund, seit längerem Anabolika zu nehmen. Irgendwann wird seine Leber die vielen Eiweißpräparate nicht mehr verkraften und auch seine Gelenke werden bei der chronischen Überbelastung nicht mehr mitspielen. Ohne Aufenthalt in einer Klinik wird er seine Muskel-Sucht nicht in den Griff bekommen. Sein jetziger Lebensstil wird seine Krankenkasse noch teuer zu stehen kommen.

Mein Bekannter hat auf meinen Rat, eine Suchtberatung aufzusuchen, beleidigt reagiert. Aufgrund meiner unverschämten "Grenzüberschreitung" hat er unseren Kontakt abgebrochen. Auch ich, der inzwischen in Rente bin, habe mich vor kurzem wegen meiner Depressionen um eine Therapie bemüht. Meine Therapeutin riet mir in der 3. Sitzung ab. Ich sei in Kontakt mit meinen Gefühlen und würde meine Lebenssituation wach verfolgen. Deshalb hält sie eine tiefenpsychologisch orientierte Analyse für unnötig. Ich könnte sie aber jederzeit in besonders belastenden Situationen aufsuchen. Inzwischen weiß ich, was mir Magenschmerzen bereitet hatte. Ich habe endlich eine handfeste Auseinandersetzung gewagt. Seitdem geht es mir seelisch wieder besser und mein Bauch fühlt sich zufriedener an.

Wir haben inzwischen auch bei uns Verhältnisse wie in Amerika. Fast jeder meiner Freunde hat eine oder mehrere Therapien hinter sich. Ich will mich zu ihrem Erfolg nicht kritisch äußern und dem vorhandenen Vorurteil gegenüber Psychologen weitere Nahrung geben. Aber wir sollten in einem Forum wie diesem öfters und mutiger von unseren Krankheiten und Neurosen und von unseren Erfahrungen bei ihrer Behandlung sprechen.

www.leiden-schaft.org

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Schneider

Dr. Daniel Schneider ( Jahrgang 1944 ), konservativer Anarchist, Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie.

Daniel Schneider

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden