Auf dem Sprung

Gedanken zwischen Tür und Angel von fast schon unterwegs, vor der Abreise:

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Eine Kurz-Biografie einer Frau aus den 68-ern.

Ich kenne nur eine Version dieser Lebensgeschichte, nicht die Version des Partners, ich konnte sie neulich jemand nicht zu Ende erzählen, weil alles abriss, das Gespräch in eine andere Richtung weiterverlief, schreibe deshalb, weil ich irgendwie denke, diese Biografie einer Frau aus den 68-ern, könnte für viele Menschen interessant sein:

Es ist die Geschichte einer Frau aus den 68-ern, allerdings aus anderen 68-ern wie sie die Mehrheit vermutlich kennt:

Schulzeit: Hauptschule, Arbeit auf dem Hof. Die Mutter und der Vater wollten nicht, dass die Tochter eine Ausbildung macht, weil dann würde sie eines Tages eine feine Frau spielen und nicht mehr auf dem Hof arbeiten wollen, so die Aussage der Eltern. Fabrikarbeit und Arbeit auf dem Hof – so der Plan, der ihr ungefragt übergestülpt wurde. Beides war ihr verhasst. Die Jugendliche suchte sich einen Arbeitsplatz in einem Büro zur Aushilfe, nach kurzer Zeit fragte Sie der Chef, warum sie nicht noch einen anderen Schulabschluss machen möchte oder eine Lehre. Er überreichte ihr einen Lehrvertrag. Sie war nicht 21 und hätte die Unterschrift der Eltern gebraucht. Die Eltern verweigerten die Unterschrift. Sie arbeitete so im Büro weiter, machte die gleiche Arbeit wie die gelernten Arbeitskräfte auch, sie bekam viel Anerkennung, verdiente aber weniger. Irgendwann wurde rationalisiert und sie wurde entlassen. Da sie keinen Ausbildungsnachweis hatte, fand sie keine Bürostelle mehr, und arbeitete als Hilfsarbeiterin.

Sie lernte jemand kennen -- einen Landwirt, er sagte er sei etwas anderes.

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Unterbrechung des Gesprächs. Gedanken von jemanden mit Overprotecting-Parents:

Warum erzählt er sowas! Lange laute Rede mit viel: Ich würde an der Stelle der Frau Usw.

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Weiter konnte ich die Lebensgeschichte der Frau nicht erzählen, danach war ich konfus, ich möchte Sie zu Ende erzählen.

Nicht alle Kinder wachsen auf in der Enge einer „Liebe“ -- als Kinder von sich aufopfernden, einengenden over-protecting parents. Nicht alle Kinder hatten Eltern, die sich um Schulabschlüsse der Kinder sorgten, ein Elternteil (meist die Mütter) zuhause blieben und frustriert sich aufopferte, zugleich die Kinder zuschütteten mit „Liebe“ und überbehüteten, Kinder weiterführende Schulen besuchen und Berufe ergreifen können. Es gibt Kinder, deren Leben ziemlich hart verläuft, mit Arbeit und wenig Schule und keinen Mußestunden und Hobbies.

Die Frau, die den Mann kennenlernte, wusste, dass es nicht stimmt, was er sagte, zugleich irgendwie doch stimmt, denn sie wusste auch, dass dort, wo sie lebten, kein Mann an einem Tisch offen vor anderen von etwas „Lächerlichem“ wie einem Traum, den er hat, sprechen würde, aber sie verliebte sich trotzdem und sie hörte den Traum heraus und sie lebten ihn später gemeinsam, weil er und sie ähnliche Träume verbanden.

Ich heiße die Unehrlichkeit des Mannes nicht für gut, aber ich möchte daran erinnern, dass es für uns leicht ist offen zu sagen, was wir möchten. Wir wählten viel im Leben, wählten Seminare aus an der Uni, machten dies, machten das, was wir wollten, arbeiteten an verschiedenen Arbeitsstellen in unterschiedlichen Bereichen. Es gibt Kinder, die nie gefragt wurden, die nie wählen konnten, für die bereits nach Geburt feststand – wie das Leben verlaufen wird, es ist ein Junge, der übernimmt den Hof später und sobald der Bub laufen kann: Arbeit.

Im wahren Leben ging die Geschichte so weiter: Sie sagte ihm, ihr reicht es auch mit der Landwirtschaft.

Sie sah seinen Traum im Herzen, weil sie selbst nicht lernen konnte, was sie gerne gelernt hätte. Sie sah den Wunsch in seinem Herzen. Hatte Verständnis für seinen Traum, der ihrem Traum nahe war.

Die beiden bekamen Kinder, sie sind heute erwachsen und haben die Berufe ergriffen, die sie gerne ergreifen wollten. Die Eltern hatten eine Weile noch als Landwirte gearbeitet, parallel teilweise mit Ausbildung teilweise autodidaktisch eine neue berufliche Existenz aufgebaut, sie bauten zusammen eine kleine Firma auf, die gut lief und glückte.

Als ich verletzt nach einem Baustellenunfall im Krankenhaus lag und unsicher war, ob ich wieder Musik machen können würde und zeichnen, weil unter anderem meine Handgelenke schwer betroffen waren und auch lesen und konzentriert arbeiten durch Neuralgien infolge der Kopfverletzungen schwer wurde, besuchte sie mich. Sie erzählte mir diese Geschichte von sich, ich hörte ihr ruhig zu, mir gab sie Hoffnung – ich möchte die Geschichte weiterschenken, weil es eine Geschichte ist, die nicht illusorisch an Träume glaubt, wohl aber daran, dass Träume wirklich werden können, nicht immer gleich und 1:1, aber dennoch.

Musik kam später anders als gedacht wieder in mein Leben -- und die Kunst auch. Und ich arbeitete eingeschränkt später wieder auf der Baustelle, um auch die Arbeit der Maurer/innen nicht nur der Zimmer/innen kennenzulernen.

Mir hat diese Geschichte der Frau geholfen damals Lebensentwürfe umzustellen (nach den Maßgaben meiner Einschränkungen, vieles war plötzlich nicht mehr möglich oder nur noch eingeschränkt) und dennoch Projekte aufzubauen, Ausstellungen und Uraufführungen zu machen, zu studieren. Und die Geschichte half mir an Menschen und ihre Träume zu glauben, meine eigenen Träume und die Träume anderer. Vor mir standen schon oft Menschen nicht mit Fakten, sondern mit Träumen, ich denke dann an die Geschichte dieser Frau und sage einfach: Mach! Lebe Deinen Traum. Auch der Mensch, der die Einwände brachte gegen den Mann, sagte einen Traum als Berufsbezeichnung damals beim Kennenlernen, ich glaubte, obwohl es damals vor allem noch Traum war. Es entwickelte sich Freundschaft.

Die Geschichte der Frau und des Mannes aus den 68-ern ist wirklich, einschließlich der Erzählung der Geschichte mit Unterbrechung der Geschichte. Das Gespräch ging nach der Unterbrechung in eine ganz andere Richtung weiter, wir verloren uns in anderen Themen.

Ich glaube viel zu wenige Menschen leben ihre Träume, obwohl alle Menschen Träume haben – ich glaube sowohl die überformten Kinder der Over-Protecting-Mums-and-Dads als auch die Kinder, die in materieller Armut und Bildungsbenachteiligung aufwachsen und auch viele der Kinder in den Graubereichen zwischen diesen beiden Extremen -- leben oft nicht ihren Traum.

Ich wünsche mir für die Kinder der Zukunft -- offene Orte, die es ermöglichen Flügel auszubreiten und Träume zu leben:

Ich glaube die Pünktchens wachsen oft in Enge auf, überschüttet mit materialisierter Liebe, die Antons in einer Welt der Arbeit und des früh Funktionierenmüssens nach den Vorstellungen anderer. Könnten die Eltern von Pünktchen und Anton und die Kinder sich begegnen in Pünktchen-und-Anton-Häusern – wäre allen Eltern und Kindern geholfen, die einen könnten aus ihrer erdrückenden Enge ausbrechen (die Kinder und Mütter oft empfinden (meist sind die Mütter, manchmal auch die Väter zuhause in den engen vier Wänden mit den Kindern und opfern ihren Beruf und leiden und die Kinder wollen das gar nicht – weder die Enge zur Mutter bzw. Vater, noch dass diese ihr eigenes Leben aufgeben)) -- manchen Müttern und Vätern und Kinder würde es gut tun, würde sich nicht immer nur alles um die engen vier Wände und das überformte Kind drehen -- und Kinder, die das Gegenteil erleben, nämlich bittere Armut und Arbeit, könnten erleben, dass es Orte gibt, an denen Kinder Kinder sein dürfen und keine Arbeitskräfte. In diesem Land, auch in diesem reichen Land, und in vielen Länder arbeiten Kinder, bauen z. B. in Heimarbeit Kugelschreiber zusammen, statt Hausaufgaben zu machen, bedienen Maschinen usw. Ich hoffe, dass es weltweit Pünktchen-und-Anton-Häuser geben wird, die allen Kindern und ihren Eltern Anlaufstelle sind.

Bitte versteht mich nicht miss, ich will keinen Eltern die Kinder wegnehmen mit diesen Pünktchen-und-Anton-Häuser, diese Häuser -- sie sollen offen sein und jede/r kann hin, wenn er/sie Lust dazu hat, muss aber nicht. Ich weiß auch, dass es viel zwischen diesen beiden Extremen Pünktchen und Anton gibt, dennoch erachte ich diese Häuser für wichtig.

Die Eltern verlieren keine Kinder, sondern bekommen Kinder dazu und Freundschaften zu anderen Eltern. Freiräume, Berufe ausüben zu können, was vor allem Frauen oft nicht mehr können. Die Häuser sollen Familien unterstützen aus der Armutsspirale auszubrechen, sei es die Armutsspirale einer exklusiven Eltern-Kind-Liebe, die sich gegenüber der Gesellschaft verschließt, sei es materielle Armut und Not. Die Häuser sollen vor allem Orte werden, an denen Kinder und Eltern ihre Flügel öffnen können und Träume leben – mit anderen Eltern und Kinder Projekte beginnen.

Pünktchen-und-Anton-Häuser sind einer meiner Träume. Dieser Thread soll den Träumen gehören – und Euren Träumen:

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Dieser Beitrag gibt die Meinung der Autorin wieder. Die Autorin dieses Beitrags ist eine Frau, auch wenn in der Zeile darunter das Gegenteil behauptet wird. ;-)

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