Außer Kontrolle!

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Der Senex Günter Grass irrlichtert durch neun Strophen und 69 Zeilen "Lyrik" hinzu antiisraelischen Ressentiments. Er ist altgedienter Sozialdemokrat. Auf der anderen Seite der Alterspyramide befürworten die Berliner JungsozialistInnen einen militärischen Erstschlag gegen den Iran als legitimes Mittel. Beide Ansichten sind falsch.

Günter Grass hat es in den Fingern gejuckt. Lange kein Telefonanruf mehr aus dem Willy-Brandt-Haus, der nächste Bundestagswahlkampf lässt noch auf sich warten, was aber ist in der Zwischenzeit tun?

Die weltpolitische Lage gebietet nun doch eine Stellungnahme, eine Stellungnahme eines Intellektuellen, der die Dinge gerade rückt, der sagt, was sich niemand zu sagen traut.

So würde man denken, Grass äußere sich zu postdemokratischen Tendenzen in Europa, der zunehmenden Entfremdung zwischen Wahlbevölkerung und politischer Elite, vielleicht der Bändigung des grassierenden nicht enden wollenden Raubtierkapitalismus.

Ein Fehlschluss! Grass bedient in etwas verschwurbelter Form antiisraelische Klischees, die auch vom Stammtisch um die Ecke formuliert werden können. Bemerkenswert ist, dass er einen möglichen Nuklearwaffenbestand Israels außer Kontrolle sieht - außer Kontrolle der Internationalen Atomenergiebehörde?

Antiisraelische Ressentiments verpackt in verschwurbelter Sprache

Außer Kontrolle kann bedeuten, außerhalb von Überwachung, von Beobachtung ebenjener Wiener Behörde. Außer Kontrolle kann aber auch bedeuten, dass jedes Maß verloren geht und Beherrschung sowie Verhältnismäßigkeit schwinden.

Im Wortlaut "dichtet" Grass:

"Doch warum untersage ich mir, jenes andere Land beim Namen zu nennen, in dem seit Jahren - wenn auch geheimgehalten - ein wachsend nukleares Potential verfügbar aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung zugänglich ist?"

Sicher, die der kausale Nebensatz "...weil keiner Prüfung zugänglich ist" impliziert lediglich ersteren Deutungsansatz und doch beschleicht einem bei diesen Worten "außer Kontrolle" ein unbehagliches Gefühl. Welch Geisteshaltung tritt nicht nur an dieser Stelle zu Tage?

Wenn von den politischen Kommentatoren landauf und landab analysiert wird, dass Grass Stammtischparolen, Antisemitismus und Ressentiments gegen Israel Vorschub leistet, kann angesichts dieser 69 Zeilen nichts anderweitiges entgegengesetzt werden.

Im Gegenteil hier zeichnet sich eine politische Naivität und Einseitigkeit ab, die allen ernstes weismachen will, vom Iran ginge keine Bedrohung aus.

Offen bleibt dennoch, ob sich hier eine lange gereifte innere Geisteshaltung offenbart oder ein pathologischer Geltungsdrang nach internationaler Aufmerksamkeit darbietet. Beides, ja beides gereicht dem Schriftsteller aus Lübeck nicht zum Vorteil.

Die von außen drauf schauen

Auf der jüngsten Landesdelegiertenkonferenz der JungsozialisInnen in der SPD Ende März 2012 verabschiedeten die Delegierten eine Pro-Israel-Resolution. An entscheidender Stelle heißt es darin:

"Sollte eine Isolierung des iranischen Regimes keinen Erfolg haben und keine diplomatischen Mittel mehr zur Verfügung stehen, um die atomare Bewaffnung des Iran zu verhindern, dann bedeutet Solidarität mit Israel auch ggf. die Unterstützung einer gezielten Militäraktion gegen das iranische Atomwaffenprogramm."

Es hat den Anschein, als würden die "AG 80 + in der SPD" (Grass) und die Berliner Jusos hier den dialektischen Rahmen bilden, welche Ansichten in der Volkspartei (sic!) SPD so alles Platz finden können.

Es bleibt zu konstatieren, dass die Resolution der Berliner Jusos von einem weitaus offeneren und realitätsnahen Weltbild getragen wird.

Und dennoch verbindet die Jusos und Günter Grass eine entscheidende Komponente, sie sind außenstehende Beobachter, geprägt von ihren jeweiligen Weltbildern und Argumentationsmustern. Ein von außen Draufschauen kann allerdings nie vollumfänglich die Situation einfangen, wie sie nur vor Ort erfahrbar ist.

Es lässt sich leicht, vielleicht viel zu leicht, die Solidarität mit Israel bekunden, indem man in letzter Konsequenz auch Militärschläge Israels gegen den Iran befürwortet. Man selbst kehrt ja in ein wohlgesichertertes Zu Hause irgendwo in Berlin zurück und lässt Gedanken über die weiteren Konsequenzen für die in Israel lebenden Menschen insoweit unbeachtet, als man meint, mit dieser Resolution einfach auf der "Achse des Guten" zu stehen.

Komplexe Angelegenheiten konnten noch nie mit vermeintlich einfachen Antworten gelöst werden.

In Israel hängen derweil massenhaft Aufkleber: "We love Iran!"

Während sich Grass und die Berliner Jusos in ihre jeweiligen Weltbilder fallen lassen, nehmen die Israelis ihre eigene Situation zunehmend als Bedrohung wahr. Die im Internet entstandende Kunstaktion "We love Iran", in der unumwunden mit pazifistischen Mitteln eine militärische Auseinandersetzung Israels mit dem Iran aufgehalten werden soll, hat längst den Weg aus der digitalen Welt in die analoge, auf die Straßen Jerusalems und den anderen Städten genommen.

Plakate und Aufkleber dieser Aktion pflastern die Wände in der Hoffnung in friedlicher Koexistenz in dieser Region leben zu können.

Die "Weisheiten" aus Lübeck und Berlin helfen den Menschen in dieser Region im Ernstfall nicht weiter.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Martienssen

Enttarnung durch Analyse: ein privates Blog zu Demokratie und Rechtsstaat, Soziales und ein bisschen Kultur.

Daniel Martienssen