Die Richtungswahl

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Am Sonntag entscheidet sich in der französischen Präsidentenwahl, welchen wirtschaftspolitischen Kurs Europa nehmen wird. François Hollande könnte als gewählter französischer Präsident einen Paradigmenwechsel in der Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise einleiten. Merkel wird sich aus machttaktischen Erwägungen den Zielen Hollandes nicht in Gänze verschließen - eine Chance für Europa.

Das französische Recht schreibt vor, dass vor 20h am Wahltag weder Prognosen noch Hochrechnungen in der französischen Republik veröffentlicht werden dürfen, damit die Wahl bis zur Schließung der Wahllokale nicht von Medien beeinflusst werden kann.

Es sieht wenige Tage vor der Stichwahl zwischen François Hollande und Nicolas Sarkozy nach einem Sieg des sozialistischen Kandidaten aus, so dass erstmals nach dem Auszug einen anderen François - François Mitterand - aus dem Élysée-Palast vor 17 Jahren wieder ein Kandidat der französischen Sozialisten in den Präsidenten-Palast einziehen wird.

Dass viele Teile der französische Bevölkerung seit einiger Zeit ihres Präsidenten überdrüssig sind, ist ein offenes Geheimnis, daran vermochte auch die Aussage Carla Bruni-Sarkozys nicht viel zu ändern, dass der "Anti-Sarkozyismus" ein Problem der Pariser Elite sei. Wenn nun Hollande tatsächlich am Sonntag den Auftrag der Mehrheit der Franzosen erhält ihnen fünf Jahre vorzusitzen, stellt sich unweigerlich die Frage, wie geht es weiter in Europa?

Merkel hat sich "Merkozy" verschrieben

In Berlin wäre man über eine zweite Amtszeit Sarkozys mehr als erleichtert, haben doch die vergangen Monate und Jahre der Krisenbewältigung gezeigt, wie sehr Merkel den französischen Präsidenten ihren Bewältigungsstrategie aufzwingen konnte. Wenn die Medien "Merkozy" als Begriff erschaffen haben, so ist doch festzustellen, dass es eher ein "Merkel feat. Sarkozy" gewesen ist, denn eine gleichberechtigte Vermengung auf Augenhöhe.

Umso mehr wird es Merkel schmerzen am Sonntag einen getreuen Weggefährten verlieren und auf einmal mit einem französischen Präsidenten zusammenarbeiten zu müssen, der in wesentlichen Fragen der künftigen Europa-Politik mit der Bundeskanzlerin über Kreuz liegt.

Im Verlauf der Reihung der Krisengipfel für das Griechenland-Rettungspaket ist es im Herbst 2011 zu einem Paradigmenwechsel gekommen. Der feste Wille der Gläubigerbeteiligung durch Schuldenschnitte ist am Widerstand ebenjener finanzkräftigen Gläubiger aufgegeben worden. Stattdessen gaben Merkel und Sarkozy die Losung aus, dass die Staatshaushalte der europäischen Mitgliedsstaaten nun das eigentliche Problem seien.

Flugs sind durch die Hintertür Konzepte aus der Mottenkiste der Nuller-Jahre hervorgekramt worden, die an die neoliberalen rot-grünen Jahre erinnern und praktisch eine europaweite Einführung der Agenda 2010 mit Fiskalpakt u.a. vorsehen. Nun sind es die Staatsschulden, die für die Krise seit dem Frühjahr 2010 verantwortlich sind. Von der Regulierung der Finanzmärkte ist allenfalls in Fußnoten noch die Rede. Mit dieser Strategie soll der Offenbarungseid der Politik vor den wirtschaftlichen Eliten kaschiert werden.

Es bleibt nun abzuwarten, ob Hollande die Kraft hat, erneut den Kampf mit der Wirtschaftselite und den Finanzmärkten aufzunehmen oder ob ihm aus Berlin und Frankfurt am Main relativ schnell der Wind aus den Segeln genommen wird. Sollte es Hollande gelingen Koalitionen auch mit anderen von der Finanzelite gegängelten Mitgliedsstaaten zu schmieden, ist eine Wende von Merkel in diesen Fragen mehr als wahrscheinlich, ihre Wendigkeit und Inhaltsflexibilität ist seit Beginn ihrer Kanzlerschaft zum Markenkern erwachsen.

Wenn Berlin in den Kursschwenk aus Paris einstimmen würde, ist eine reelle Chance gegeben, den Paradigmenwechsel aus dem Herbst 2011 zu revidieren und erneut die Akteure und eigentlichen Verursacher der Finanz- und Wirtschaftskrise an der Bewältigung partizipieren zu lassen.

Zunächst jedoch ist die französische Bevölkerung am Sonntag aufgerufen, Hollande das Mandat für diese Aufgabe zu erteilen. Die Stichwahl wird wahrlich zur Richtungswahl.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Martienssen

Enttarnung durch Analyse: ein privates Blog zu Demokratie und Rechtsstaat, Soziales und ein bisschen Kultur.

Daniel Martienssen