Paternalismus und Sozialstaat

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Joachim Gauck plädiert für einen vorsorgenden Sozialstaat und etikettiert den fürsorgenden Sozialstaat als überholten Paternalismus. Eine Gemengelage an wirtschaftlichen und sozialen Gefahren stellt den hehren Anspruch Gaucks in Frage, den liberalen Aufstiegsgedanken dauerhaft in das Stammbuch der Bundesrepublik zu etablieren.

Joachim Gauck hat nach der Vereidigung zum Bundespräsidenten seine erste Grundsatzrede im Bundestag gehalten. Sein großes Lebensthema "Freiheit" hat erwartungsgemäß dieser Rede den Rahmen gegeben. Auf Anhieb präsidial hat er jedoch versucht alle politischen Strömungen im Bundestag anzusprechen und Konsenslinien herauszuarbeiten.

Der Erfolg ist ihm nicht abzusprechen, da am Ende seiner Rede auch fast die gesamte Linksfraktion mit stehenden Ovationen der Rede des 11. Bundespräsidenten Respekt gezollt hat.

Die entscheidende Redepassage zu seinen sozialpolitischen Leitlinien ist folgende:

"Es soll 'unser Land' sein, weil 'unser Land' soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet. Der Weg dazu ist nicht der einer paternalistischen Fürsorgepolitik, sondern ein Sozialstaat, der vorsorgt und ermächtigt."

Hier zeigen sich Gaucks liberale Grundüberzeugungen, die das Individuum im idealen Falle durch staatliche Rahmenbedingungen befähigen solle, seine eigenen Stärken zu definieren und zum Wohle der Gesellschaft gewinnbringend einzusetzen. Der Begriff "vorsorgender" Sozialstaat impliziert, dass selbiger durch präventive Maßnahmen und Aktivierungspolitik der Abgehängten in der Gesellschaft nur noch in absoluten Ausnahmesituationen fürsorgend in Erscheinung treten soll.

Ist der fürsorgende Sozialstaat der 70er Jahre überholter Paternalismus?

Demgegenüber setzt Gauck das Bild von der paternalistischen Fürsorgepolitik, die Aufstieg und Aktivierung des Einzelnen verhindere und Passivität fördere. Dahinter verbirgt sich die Ablehnung an einen starken Staat, der die ebenjene abgehängten Schichten in der Gesellschaft auffängt und eine soziale Verelendung verhindert.

Die in den USA geborene Geschichte "Vom Tellerwäscher zum Millionär" erhält von Gauck eine exponierte Stellung und der liberale Aufstiegsgedanke soll als Leitthema seiner Präsidentschaft ins Stammbuch der Bundesrepublik Eingang finden.

Ein Liberaler kann eine objektiv gerechte Gesellschaft nicht anders denken als durch das größtmögliche Einräumen an "Ermächtigung" und dem im Individuum eingepflanzten Streben nach Glück, d.h. nach immaterieller und materieller Erfüllung.

Dieses sehr idealisierte Bild mit einer absoluten Durchlässigkeit in der Gesellschaft als notwendige Voraussetzung, hält der Realität nicht stand.

Zwar kann man Joachim Gauck nicht anlasten, hier durch bewusste Verschleierung gerade die Schere von arm und reich, die er in seiner Rede selbst angesprochen hat, weiter auseinander gehen zu lassen, dennoch zeugt sein liberales Menschenbild mindestens von naiven Vorstellungen über die soziale Wirklichkeit im Land.

Gegen Aktivierungsmaßnahmen, gegen Reintegration des abgehängten Teils der Gesellschaft ist kaum etwas einzuwenden, ein von Gauck befürworteter minimalistischer Sozialstaat jedoch verliert seine bisherige Schlagkraft, denjenigen beizuspringen, bei denen die Aktivierungspolitik fehlgeschlagen ist.

Auch die absolute Durchlässigkeit in der Gesellschaft bleibt bisweilen mehr Utopie als wirkliche Handlungsgrundlage für Wirtschafts- und Sozialpolitiker.

Den fürsorgenden Sozialstaat als paternalistisch zu etikettieren, kann sich in näherer Zukunft schon bald als Fehlleistung herausstellen.

Zunehmende Knappheit an Wirtschaftsgütern zwingt zur Lösung der sozialen Frage

Die weltweite Nachfrage an natürlichen Ressourcen nimmt konstant zu, China ist auf dem afrikanischen Kontinent seit geraumer Zeit auf Jagd nach diversen Rohstoffen und jüngst haben die USA, Japan und die EU China vor der WTO verklagt, da dieses den Handel mit seltenen Erden durch Exportbeschränkungen unlauter behindere.

Dies ist nur ein Element, wie sich der relative soziale Frieden auch in Deutschland durch Weltwirtschaftsturbulenzen verschlechtern könnte. Von der noch nicht ausgestandenen Finanz- und Schuldenkrise in Europa ganz zu schweigen. Wer hier fahrlässig für die weitere Aufweichung des Sozialstaats eintritt, nur um sein liberal-romantisches Weltbild zu hegen, wendet eben gerade nicht, wie es der Amtseid vorgibt, Schaden von der Bevölkerung ab.

Sicher, der Bundespräsident hat eine repräsentative Funktion, dennoch bestimmt er das Diskursklima dieser Republik mit, vor allem eine Person wie Joachim Gauck, der durch intellektuelle Schärfe und rhetorischer Fertigkeiten ein in dieser Hinsicht starker Bundespräsident werden wird.

Die soziale Frage rollt auch auf Deutschland und Europa zu, in Griechenland verliert bereits die untere Mittelschicht Hab und Gut und auch Obdachlosigkeit ist keine exotische Ausnahme mehr.

Das liberale Menschenbild ist für Zeiten gedacht, in der eine wirtschaftliche und soziale Gemengelage an Gefahren, wie wir sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorfinden, nicht besteht.

Für den Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt ist der Sozialstaat die größte zivilsatorische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Aufgabe der politisch Verantwortlichen im 21. Jahrhundert wird es sein, den Sozialstaat zu bewahren.

Dies wird kein Paternalismus sein, sondern Zukunftssicherung für die Schwächsten in der Gesellschaft.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Martienssen

Enttarnung durch Analyse: ein privates Blog zu Demokratie und Rechtsstaat, Soziales und ein bisschen Kultur.

Daniel Martienssen