Der europäische Traum ist tot

Meinung Mit der gestrigen Einigung der EU-Staaten zur Verschärfung des Asylrechts, hat die Festung Europa an Fundament hinzugewonnen; auf Kosten der Menschenrechte. Ein Kommentar.

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Es hatte sich bereits in den letzten Wochen herauskristallisiert und ist gestern, dem 8. Juni 2023, Wirklichkeit geworden. Die 28 EU-Staaten haben sich in Luxemburg nach langem Ringen zu einem Kompriss für das sog. Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) verständigen können. Es geht nicht weniger um eine Verschärfung des bestehenden Asylrechts, dass seit 1999 fortlaufend bearbeitet wurde. Im Kern wurde neben der Unterstützung von EU-Mitgliedstaaten, die mit der Flüchtlingsaufnahme überfordert waren, auch die Etablierung von Internierungslagern an EU-Außengrenzen für Flüchtlinge aus sog. "sicheren Herkunftsländern" beschlossen. Innerhalb von 12 Wochen müsse dann überprüft werden, ob der oder die Asylsuchende auch ein Recht darauf hat. Ist dies nicht der Fall, kann die Person umgehend zurückgeschickt werden. Durch diese Entscheidung sind außerdem Minderjährige nicht ausgenommen worden. Auch kleinen Kindern droht damit die Inhaftierung und potenzielle Abschiebung. Trotz der anfänglichen Forderung der deutschen Bundesregierung, Minderjährige aus dieser Regelung rauszuhalten, stimmte die Mehrheit der anderen EU-Staaten gegen diese Forderung. Und was ist die Konsequenz der Bundesregierung? Sie stimmt dem Asylkompromiss trotzdem zu. Obwohl es faktisch den Koalitionsvertrag bricht. Obwohl zwei "linke" Parteien in der Bundesregierung sind. Wie können die SPD und die Grünen diesem menschenfeindlichen Kompromiss zustimmen?

(Mal wieder) Bauchschmerzen

Die Reaktionen der Bundesregierung auf den Kompromiss unterscheiden sich zum Teil stark. Besonders die Grünen, die sich Menschenrechte normalerweise so entschlossen auf ihren Fahnen schreiben, müssen sich rechtfertigen. Die Parteivorsitzende Ricarda Lang schreibt auf Twitter bspw., dass "der Status Quo unerträglich" und es richtig sei, sich für eine europäische Reform eingesetzt zu haben. Gleichzeitig betont sie aber, dass die Reform "dem Leid an den Außengrenzen nicht gerecht" wird. Im ganzen Thread reißt sie viele richtige Punkte an, nur um dann denjenigen Respekt zu zollen, die zu einer anderen Einschätzung gekommen sind. Eine Reform, die Leid nicht schmälert, hat also Respekt verdient? Langs Counterpart, der Parteivorsitzende Omid Nouripour, ist in seiner Einschätzung zumindest ehrlicher:

Eingebetteter Medieninhalt

Die Grünen sind offensichtlich bei der Frage zerrissen, wie sie auf den Asylkompromiss reagieren sollen. Eine Partei, für die "Menschenrechte unverhandelbar" sei, sollte die Antwort eigentlich klar und deutlich sein.

Die wohl unreflektierste Reaktion kommt aber von der Innenministerin Nancy Faeser höchtspersönlich:

Eingebetteter Medieninhalt

Es wird gar nicht erst der Versuch gemacht, die EU-Einigung kritisch zu beleuchten oder gar abzulehnen. Da macht sich wohl jemand für den Wahlkampf in Hessen bereit, um noch ein paar rechtskonservative Stimmen abzugreifen. Über ihre angebliche Nähe zum Linksextremismus kann man spätestens jetzt nur noch schmunzeln. Seehofer 2.0 lässt grüßen.

Rechte Deutungshoheit

Was zeigen diese Einigung und die Reaktionen der deutschen Regierungsparteien ganz konkret? Das rechte Lager hat die Deutungshoheit über die Asylfrage längst eingenommen und regiert sie mit eiserner Faust. Es sind nicht mehr nur die Regierungen in Polen, Italien oder Ungarn, sondern es sind vermeintlich progressive Regierungen, die sich von rechtsextremistischen Parteien hertreiben lassen. Statt dezidiert andere Positionen stark zu machen, wird das politische Programm einfach mit etwas brauner Farbe angereichert. Das ist nicht sozialdemokratisch oder grün oder links. Das ist rechts. Warum übehaupt Union oder AfD wählen, wenn die Ampel-Regierung ihren Job einfach mitübernimmt? Gleichzeitig zeigen solche Entscheidungen der Bevölkerung, dass es "sicher" sei, die AfD zu wählen. Wenn die etablierten Parteien die gleiche Politik machen, wie die AfD, warum soll diese dann so schlimm sein? Hohe Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufgrund von Inflation, Krieg und unsozialer Klimapolitik, gemischt mit der Normalisierung rechter Positionen, bereitet den Nährboden für eine AfD über 20%.

Wenn linke Kräfte eine ablehnendere Haltung zur EU haben, liegt das nicht an antieuropäischen Tendenzen, sondern an menschenfeindlicher Politik von Seiten der EU. Und dadurch wird sich die bestehende Politikverdrossenheit in der Gesellschaft weiter ausbreiten. Menschen engagieren sich nicht mehr in progressiven Parteien und es gibt letztendlich weniger Strukturen, um Bürger:innen davon abzuhalten, in die Arme der AfD getrieben zu werden. Es braucht eine soziale und linke Gegenseite, die die rechte Deutungshoheit zum Einstürzen bringt.

Am Ende bleiben nur Ruinen

Mit dieser Situation kann man nicht zufrieden sein. Das Flüchtlingslager in Moria, eingehüllt in Flammen, wird stets in meinen Erinnerungen eingebrannt bleiben. Es hat Menschen für den Rest ihres Lebens traumatisiert, besonders Kinder. Wollen wir wirklich noch mehr Morias? Noch mehr Menschenfeindlichkeit? Das kann keine Option sein. Weder von der politischen Linken, noch von Personen, die sich als Verfechter:innen von Menschenrechten verstehen. Viele sind heute Morgen aus ihrem Traum von einem wertebasierten Europa aufgewacht. Einem Europa, das einen Friednsnobelpreis verdient hat. Einem Europa, das Menschen gleichberechtigt sieht. Der Traum ist geplatzt und wir stehen vor dessen Scherben, die sich zu einer kilometerhohen Festung aufgetürmt haben. Viele haben vor diesem Moment gewarnt. Jetzt ist er gekommen. Hoffnungsvoll machen nur noch die Leute, die energisch gegen solche Entwicklungen protestieren und ein Europa für Alle einfordern. Die Aussage des neuen Vorsitzenden der SPÖ, Andreas Babler, dass von den meisten Festungen am Ende nur Ruinen übrig bleiben werden, wird sich hoffentlich als richtig erweisen.

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