Das Thomas-Evangelium - Teil 3

Spirituelles Das Thomas-Evangelium wird auch als das fünfte Evangelium bezeichnet, neben den vier Evangelien der Bibel.

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Dies ist der 3. Teil meiner Blog-Artikel-Reihe mit Gedanken über das Thomas-Evangelium. Seit dem Verfassen der ersten beiden Teile (Teil 1, Teil 2) haben sich wieder etliche Gedanken in meinem Kopf angesammelt. Ich beginne mit dem vorletzten Logion:

"(113) Seine Jünger sagten zu ihm: Das Königreich, an welchem Tage wird es kommen? Jesus sprach: Es wird nicht kommen, indem man darauf wartet. Man wird nicht sagen: Seht, hier ist es, oder: Seht, dort ist es. Sondern das Königreich des Vaters ist ausgebreitet über die Erde, und die Menschen sehen es nicht."

Die ersten Christen glaubten, dass es bald käme. Und über die ganzen zwei Jahrtausende gab und gibt es immer wieder Überzeugungen, dass es in einer Art Apokalypse käme, dem jähen Ende der Alten Welt und dem Beginn der Neuen Welt. Andere haben es in ein Jenseits verlegt, was der heute verbreitete Glaube ist.

Aber es existiert im Hier und Jetzt, quasi als das Reich der konkreten Utopie. Die Saat ist ausgebracht worden, nun wachsen die Früchte und reifen. Wenn sie reif sind, dann können sie geerntet werden.

"(9) Jesus sprach: Siehe, da ging ein Sämann hinaus, füllte seine Hand und warf (die Samen). Ein Teil davon fiel auf den Weg; die Vögel kamen, sie aufzusammeln. Andere fielen auf den Felsen, und sie schlugen keine Wurzeln in der Erde und brachten keine Ähren hervor zum Himmel. Und andere fielen auf die Dornen; sie erstickten die Saat und der Wurm fraß sie. Und andere fielen auf die gute Erde, und sie gab eine gute Frucht zum Himmel; sie brachte sechzig Maß und hundertzwanzig Maß."

Die Sprache der Menschen im Alten Orient war konkreter als die unsere. Das Thomas-Evangelium arbeitet wie auch andere Schriften mit Gleichnissen, mit Metaphern. Man kann es vollständig metaphorisch nehmen, man muss es nicht metaphysisch nehmen.

Das Thomas-Evangelium ist anders als die vier biblischen Evangelien. Diese erzählen eine Geschichte, die des Jesus von Nazareth mit den bekannten Lebensstationen. Das Thomas-Evangelium beschränkt sich auf die Lehre von Jesus, und das noch in einem Rohzustand.

"(1) Und er sprach: Wer die Interpretation dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken."

Die biblischen Evangelien interpretieren wie die anderen Schriften des Neuen Testaments vor für die Allgemeinheit. Wir lernen die Interpretationen von Paulus, von Matthäus, von Markus, von Lukas, von Johannes und die der anderen Autoren kennen. Das Thomas-Evangelium fordert die Leser zum Nachdenken und Hinterfragen, zum Selberfinden auf. Wie ein guter Lehrer es tut. Es geht auch vom Einzelnen aus, wörtlich aus dem Altgriechischen monachós, wovon übrigens unserer Wort Mönch stammt.

Meine Erkenntnis in Bezug auf Religion und im spezielleren in Bezug auf das Thomas-Evangelium ist, dass sie auch eine antike Form von Psychologie ist. Mein Eindruck verstärkt sich zunehmend, dass wir westlich-materialistischen Menschen etwas verloren haben: das Spirituelle, das noch tiefer geht als unsere heutige Psychoanalyse.

"(24) Seine Jünger sagten: Belehre uns über den Ort, an dem du bist, denn es ist notwendig für uns, dass wir ihn suchen. Er sprach zu ihnen: Wer Ohren hat, der höre! Es ist Licht im Inneren des Menschen des Lichts, und es erleuchtet die ganze Welt. Wenn es nicht scheint, ist Finsternis."

Etliche schauen nach Indien zu den buddhistischen Mönchen, und sagen: Ja, da ist etwas dran an der Erleuchtung.

"(22) Jesus sah Kleine, die gesäugt wurden. Er sprach zu seinen Jüngern: Diese Kleinen, die gesäugt werden, gleichen denen, die ins Königreich eingehen. Sie sagten zu ihm: Wenn wir also Kinder werden, werden wir (dann) in das Königreich eingehen? Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr aus zwei eins macht und wenn ihr das Innere wie das Äußere macht und das Äußere wie das Innere und das Obere wie das Untere und wenn ihr das Männliche und das Weibliche zu einem Einzigen macht, sodass das Männliche nicht männlich und das Weibliche nicht weiblich ist und wenn ihr Augen macht statt eines Auges und eine Hand statt einer Hand und einen Fuß statt eines Fußes, ein Bild statt eines Bildes, dann werdet ihr in das Königreich eingehen."

Etliche schauen zu den amerikanischen Ureinwohnern, und sagen: Ja, da ist etwas dran an der Einheit des Menschen mit der natürlichen Umwelt, mit dem Spirituellen und im Sinne des Two-Spirit.

Etliche schauen wieder auf das gnostische Christentum. Wo ist der Unterschied zwischen einem Buddha und einem Lichtmenschen? Wo ist der Unterschied zwischen einem ursprünglichen Menschen und einem Einsgewordenen?

Wir leben in der real existierenden Welt des Kapitalismus und des Materialismus, wo wir entfremdet sind. Eine solche Welt wird schon im Thomas-Evangelium kritisiert: die Welt derjenigen, die uns führen (Logion 3), der Pharisäer und Schriftgelehrten (Logion 39), der Geschäftsleute und Händler (Logion 64), der Könige und Vornehmen (Logion 78).

Können wir das Spirituelle nicht sehen, oder wollen wir es nicht sehen, oder trauen wir uns nicht? Werden wir uns trauen, uns unsere eigenen Bilder zu machen, statt die Bilder derjenigen zu übernehmen, die uns führen?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Red Bavarian

Die Vergangenheit analysieren, die Gegenwart gestalten, die Zukunft erdenken.

Red Bavarian

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