Meine Lippen sind fest aufeinander gepresst – und doch hören mich alle. Ich lärme mit 140 Zeichen, Hashtags, Retweets und anderen Anglizismen. Ich abonniere, shorte, konsumiere, kritisiere und vergesse dabei völlig die Zeit. Wieder hat mich ein soziales Netzwerk geschluckt.
Schneeballsystem mit Suchtfaktor
Ich bin kein Fan von Wortverknappung, Kinkerlitzchen und auch nicht von Schneebällen – letztere schossen mit unschöner Regelmäßigkeit auf diverse Körperstellen meines bibbernden 14-jährigen Ichs. Schuld war Martin. Der hatte es faustdick hinter den Ohren, begeisterte als Klassenclown die einen und nervte den Rest.
Twitter hat Martins Dualität kopiert: Tages-, Onlinezeitungen, natürlich auch "der Freitag" sowie Agenturen und andere Wichtigtuer sind seit längerem begeisterte Anhänger des sozialen Netzwerkes. Sie nutzen das Ticker-Prinzip, um ihre Schlagzeilen rücksichtslos in die Welt hinauszuballern. Und so prasseln Abkürzungen, Links und manch' kurze Sätze auf ihre "Follower" nieder. Autsch!
Als gebranntes Kind suchte ich die Deckung und umging das Twitter-Phänomen rigoros – jedenfalls bis mich Blogger Richard Gutjahr, Hörfunkjournalist Daniel Fiene und auch Beckenbauer aus dieser (asozialen) Komfortzone lockten.
Vom Tahrir-Platz zur "Rundshow"
"Filter", "Recherchetool", "Impulsgeber" und "Das macht Journalismus authentisch!", schwärmen die Twitter-Verliebten Gutjahr und Fiene. Richard Gutjahr schrieb mit Twitter bereits mehr als 140 Zeichen: Erst berichtete er vom Tahrir-Platz aus über den Arabischen Frühling, dann kürte ihn das Medium Magazin zum "Newcomer des Jahres".
Daniel Fiene erlebte Ähnliches – ausgerechnet als Samuel Koch bei "Wetten das...?" mehr als nur auf die Nase fiel. Während Fernsehdeutschland nach Atem rang, Zuschauer sich die bis dato unversehrten Nasen an den Mattscheiben plattdrückten und Fragezeichen in fremden Wohnzimmer tanzten, twitterte Fiene, der als Hörfunker vor Ort war. Mit seinen Kurznachrichten aus der Halle wurde er schnell zur vielzitierten Quelle.
Doch damit nicht genug: Gutjahr und Fiene (der Einfachheit wegen ab jetzt: Gutfiene) launchten im Mai 2012 ihre "Rundshow" im Bayrischen Fernsehen: Bei dem Social-TV-Experiment partizipierten Zuschauer mit Smartphone und iPad, stellten Fragen über Facebook, Twitter, Google+, YouTube oder die eigene Homepage.
Und noch etwas: Sogar "Kaiser" Franz Beckenbauer, Jahrgang '45, twittert neuerdings über Rundes und Eckiges. Man sollte doch annehmen: Was Opa kann, kann ich schon lange.
Ja, ich will!
Gutfiene brachten Argumente, die überzeugten: Mir wurde klar, dass sich Medienvertreter oftmals vom "Kollektivgehirn" bedienen.
So ermögliche Twitter, dass sich Journalisten unmittelbar und in Echtzeit mit ihren "Followern" austauschen. Medienvertreter würden Stimmungsbilder einsammeln und bekämen bestenfalls in kürzester Zeit nützliche Anhaltspunkte für Recherchen.
Weitere Liebeserklärungen hallten durch den Seminarraum. Und Leidenschaft steckt nunmal an. Ich fühlte mich so euphorisch, wie eine Jungfrau unter Frischverliebten. Twitter, ja ich will! Twitter ist das bessere Telefon! Twitter ist der Apple unter den Hardware-Herstellern, ja vielleicht sogar der Usain Bolt unter den Sprintern.
Dem Ersten voraus – ich wollte auch! Und wie: Noch im Morgengrauen fütterte ich mein Profil mit Schlagwörtern. Ich suchte und abonnierte, saugte Tweets auf, folgte und wurde zur Verfolgten.
Mein iPhone lief heiß, irgendwann – mittlerweile war es draußen dunkel – hatte iGott einsehen: Akku alle, Twitter aus, Augen zu, Denkblockade an. Einzig Daniel Fiene spazierte noch mit fettem Grinsen und väterlich erhobenen Zeigefinger durch meinen Traum: "Twitter ist nur so relevant, wie man es sich einstellt."
true@fiene: Stimmt!
Übrigens: Die im Text Erwähnten zwitschern unter @gutjahr, @fiene und @beckenbauer. Die Autorin versucht es unter @anjuwi.
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