Hörspiel

A–Z Der Günter-Eich-Preis für deutschsprachige Hörspiele geht dieses Jahr an die Produzenten Andreas Ammer und FM Einheit. Unser Wochenlexikon zu einem vielseitigen Medium
Ausgabe 25/2019

A

Autos Wenn ich an das Hörspiel denke, habe ich sofort Als die Autos rückwärts fuhren, die famosen Memoiren des elfjährigen „Laßdas Pinökel Superstar“ im Kopf. Aufgeschrieben wurde die Geschichte in den 70er Jahren von Henning Venske, der im Hörspiel auch den meist genervten Vater spricht. Das Ganze wird untermalt von der wunderbar schräg-punkigen Musik des Panikorchesters, Udo Lindenbergs alter Band.

Ich erinnere mich, wie gekränkt Laßdas war, als er zum Geburtstag nicht die gewünschte Migräne bekam, sondern einen zermatschten Kuchen. Fünf herrlich anarchische Geschichten um gestohlene Treppen, blonde Gorillas und eben Autos, die rückwärts fuhren. Klingt irre? Ist es auch. Herrlich irre. Das Hörspiel ist von 1976, kommt aber heute noch bei der Zielgruppe gut an. Ich hab es geprüft: Die 11-jährige Testerin nickte beim Durchhören regelmäßig wissend und war durchgängig vergnügt. Für mich die perfekte Reaktion. Diana Gevers

F

Führer Im Februar sendete der Norddeutsche Rundfunk eine besonders skurrile Geschichte erstmalig als Hörspiel: Die britische Adelige Unity Valkyrie Mitford war It-Girl ihrer Zeit, Cousine von Winston Churchill – und verknallt in den „Führer“. Gezeugt ausgerechnet in der kanadischen Gemeinde Swastika („Hakenkreuz“), zieht es sie Mitte der 30er Jahre nach München. Sie will ihren Adolf endlich kennenlernen. Monatelang stalkt sie ihn. Während um sie herum die ersten KZs errichtet werden, sonnte sich die 1,80 Meter große Blondine nackt im Englischen Garten. Irgendwann biss er an. Ich blätterte gerade in der Vogue, da sprach mich der Führer an, erzählt von einer irren, aber realen ( War) Fußnote der Geschichte. Die Presse spekulierte über die künftige Mrs. Hitler und Eva Braun unternahm angesichts der Konkurrenz einen Selbstmordversuch. Marlene Brey

G

Günter Eich Hörspiele waren nicht nur bei uns Blinden nach dem Krieg populär. Eich gehörte zu den Autoren, die zahlreiche dieser im Radio gesendeten Hörspiele verfasst hatten, er hatte damit schon im „Dritten Reich“ begonnen, 1952 bekam er den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Zwei Jahre davor hörte ich sein Stück Geh nicht nach El Kuwehd. Der Titel geht auf die missachtete Warnung eines Bettlers am Wegrand zurück: Der Kaufmann Mohallab ist mit seinem Diener und der Karawane dorthin unterwegs. Seine Sehnsucht nach Fatime „schleicht nicht auf Kamelsfüßen“, und so beginnt Mohallab ein „Spiel“, nur mit Worten zwar, aber auch mit dem Leben. Der Diener „soll“ Fatime lieben – „beneideter Besitz ist köstlicher“.

Genau hier beginnt der Abstieg, sowohl buchstäblich, vom Gebirge ins Tal, als auch metaphorisch: Mohallab wird Opfer seines Hochmuts. Die Kunst dieses Hörspiels liegt verborgen und offen zugleich. Die „Umwertung aller Werte“ vollzieht sich im „Augenblick“ der Hybris. Dann wacht Mohallab auf – und das Geschehen wiederholt sich. Unentrinnbar sind wir verstrickt. Helmut Zedlitz

K

Kindheit Im ICE. Neben uns eine Frau mit Kopfhörern. Das Kabel steckt noch nicht ganz. Wir sagen es ihr. Sie lächelt und erzählt, dass sie Die drei Fragezeichen hört. Sie also auch. Ob zum Einschlafen oder auf langen Fahrten – meine Generation, die in den 80ern und 90ern groß wurde, kommt von Justus, Bob und Peter nicht los. Alle paar Jahre treten sie in mein Leben. Dann bin ich wieder auf dem Schrottplatz ( Autos) von Onkel Titus, von dem die drei zu ihren Abenteuern starten. Hätten übrigens meine Eltern nicht eine Freundin gehabt, die mir die Kassetten ihrer erwachsenen Kinder überließ, ich wäre wohl bei Tim, Karl, Klößchen und Gaby – bei TKKG – geblieben. Behrang Samsami

M

Märchen Bis heute kann ich Stellen aus den DDR-Märchenhörspielen auswendig. „Schöner Hahn, keiner kann sich vergleichen mit dir. Gleichst fast gar, bis aufs Haar, dem Adler, denke ich mir. Sing lauter, Fuchs, ich hör dich nicht, sag noch einmal – wem gleiche ich?“ Das ist aus dem Tierhäuschen von Samuil Marschak, erschienen 1972 bei Litera, dem DDR-Schallplattenlabel für Märchen und Literatur. Gesprochen wurden die Hörspiele unter anderem von Rolf Ludwig und Eberhardt Esche, also den besten Schauspielern des Landes, unterlegt mit eigens komponierter Musik.

In Peter Braschs „Rotkäppchen und der Wolf in der Stadt“ gab es sogar Systemkritik. Der Wolf flieht aus dem Märchen in die Stadt und singt: „Ich bin der Wolf und bin jetzt frei. Mein Märchen ist mir einerlei. Jetzt kann ich machen, was mir gefällt, keine Oma sich in den Weg mir stellt.“ Die gute Nachricht für alle Eltern und Kinder: Niemand muss KiKa einschalten. Die Aufnahmen der DDR-Märchenhörspiele gibt’s heutzutage alle bei Youtube.Ruth Herzberg

Ministerium Anrufe von Denunzianten aus DDR und BRD wurden auf Tonband archiviert, Verhöre mit Verdächtigen, aber auch die andere Seite, die Sabotage: Zum Beispiel der „Telefonterrormensch“, der regelmäßig anrief, um Stasi-Leitungen zu blockieren. Die Originalaufnahmen lagern bis heute in der Behörde des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen. Andreas Ammer und FM Einheit erhielten Zugang zu den Dokumenten. Daraus entstanden ist ihr neues Hörspiel Sie sprechen mit der Stasi. Der düstere Sound stammt vom Ex-Drummer der Einstürzenden Neubauten.Für ihr Gesamtwerk bekommen sie am 25. Juni in Leipzig den Günther-Eich-Preis 2019 ( Günter Eich) verliehen. Maxi Leinkauf

N

Nachtflug Ein Flug durch die Nacht – das war in den frühen 1930er Jahren ein Abenteuer, das Antoine de Saint-Exupérys Novelle Nachtflug auf unvergleichliche Weise beschreibt. Der Kampf des Luftpost-Fliegers in seiner kleinen Maschine im Sturm über Südamerika wird hier zum Gleichnis: Wie viel zählt ein Menschenleben im Zeitalter des technischen Fortschritts? Der Text des Autors – der selber als Flieger einer Luftfrachtgesellschaft in Südamerika gearbeitet hatte – bietet auch als Hörspiel von Erich Ebermayer intensiven Genuss: Ebermayer verlegt die Handlung nach Europa. Beschrieben wird eine riskante Alpenüberquerung bei schlechtem Wetter, in deren Verlauf der Postflieger Glock abstürzen und sterben wird und sein Auftraggeber am Sinn des „Reglements“, der strikten Einhaltung des Flugplans, zunehmend verzweifelt. Das vom SDR im Jahr 1952 produzierte Hörspiel überzeugt noch heute in seiner zeitübergreifenden Fragestellung und Intensität. Marc Peschke

P

Podcast Erstmalig brachte das Radio die Kunstform „Hörspiel“ in den 1920er Jahren hervor. Wer die Stücke hören wollte, musste zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, was schon damals dazu führte, dass sich bei prominenten Sendungen die Zuhörer gespannt vor den Geräten versammelten (➝ Straßenfeger).

Das ist heute anders: Hörspiele gibt es im Podcast-Format. Ob in der Bahn, beim Bügeln oder Baden – der offensichtlichste Vorteil von Podcasts ist, dass man sie in jeder Lebenslage hören kann. Nebenbei, unabhängig von Sendezeiten. Der WDR etwa bietet eine Vielzahl an Sendungen im Podcast-Format an. Während Printmedien und Youtube-Videos die volle Aufmerksamkeit beanspruchen, erzeugt die Konzentration auf das Hören eine besondere Unmittelbarkeit und Anschlussfähigkeit. Noch zu Anfang, in den 2000ern, waren Podcasts ein Format von und für (vor allem männliche) Nerds. Sie haben sich jedoch weiterentwickelt. Sowohl im Unterhaltungs- als auch im Business- und Infobereich gibt es heute eine breite Themenvielfalt von hoher Qualität. Leere Straßenzüge wird das Nebenbeihören aber bis auf Weiteres nicht mehr hervorbringen. Einer meiner Lieblingspodcasts ist kein Hörspiel, sondern Das Kleine Fernsehballett mit Sarah Kuttner und Stefan Niggemeier. Elke Allenstein

S

Shuffle Wenn Ort und Handlung alle fünf Minuten wechseln, Personen aneinander vorbeireden und nichts als Verwirrung zurücklassen — dann ist die Chance groß, dass der Shuffle-Modus übernommen hat. Die Zufallswiedergabe auf dem mobilen Endgerät (➝ Podcast) ist der Erzfeind des Hörspiels. Schon wenige Minuten reichen, um den Plot zu spoilern. Wer nach Stunden übelster Montagetechnik die verflochtenen Pfeile neben der Wiedergabe entdeckt, weiß, dass er seinem Smartphone nie mehr trauen kann. Wenn das kein Grund ist, wieder auf Kassetten umzusteigen. Simon Schaffhöfer

Straßenfeger Als die Deutschen noch keinen Fernseher hatten, versammelten sie sich vor dem Radio. Hörspiele waren die Ereignisse schlechthin. Unser Sender war der Südwestfunk. Der Dienstagabend war Hörspielzeit, Zuhörzeit, Kinder mussten still sein. Es gab richtige Straßenfeger ( War).

So weit die Füße tragen, die Geschichte eines deutschen Landsers, der aus der sibirischen Gefangenschaft flieht, nach dem Roman von Josef Bauer, oder die Krimireihe Es geschah in Berlin. Als dann das Fernsehen kam, wurde So weit die Füße tragen abermals ein Straßenfeger, nun als Film. Aber viele Ältere erinnern sich an die Zeiten, als man sich noch vor dem Radio versammelte. Helmut Zedlitz

W

War Kann aus Hörspiel Ernst werden? Am 30. Oktober 1938 übertrug CBS Orson Welles’ Radiodrama The War of the Worlds. Das wie ein gewöhnliches Abendprogramm inszenierte Stück übermittelte kurz nach dem „Wetterbericht“ die Nachricht, in New Jersey seien Marsbewohner gelandet ( Nachtflug): unzählige Tote, nationaler Notstand. Der „Innenminister“ sprach zum Volk. Nach der Ausstrahlung war von Suiziden und Verkehrstoten die Rede, der Legende nach flohen Zehntausende Amerikaner, um dem vermeintlichen Angriff zu entkommen.

Zwar mag die Kriegsangst echt gewesen sein – nur einen Monat zuvor hatte Chamberlain das Münchner Abkommen symptomatisch vorschnell mit „Peace for our time“ resümiert –, die Massenpaniken waren es nicht. In den Berichten wurde arg übertrieben. Erst durch die Zeitungen, womöglich um das Konkurrenzmedium Radio zu diskreditieren, später auch von Welles, der nach Sorge um seinen Ruf merkte, dass „any publicity good publicity“ ist. Cornelius Dieckmann

Z

Zielgruppe Die erfolgreichsten Kinderhörspielserien in Deutschland stammen zumeist aus den 1980ern, erfreuen sich aber ungebrochener Beliebtheit ( Kindheit). Kleine Kinder ab drei Jahren beginnen mit Benjamin Blümchen, gehen über zu Bibi Blocksberg; es folgen Fünf Freunde, TKKG, Bibi und Tina und die Drei Fragezeichen. Dann sind sie 14 und zu cool für solche Geschichten. So die Theorie. Jedoch: Rund 50 Prozent der Drei-Fragezeichen-Hörer sind heute zwischen 20 und 40 Jahre alt, viele junge Erwachsene hören heimlich ihre alten Lieblingsfolgen und sogar „coole“ Teenager schlummern zu Bibi Blocksberg ein. Meine 14-jährigen Schulkameradinnen im Internat taten das jedenfalls und liehen sich gegenseitig die Kassetten aus. Der Grund? Vermutlich die Erinnerung an eine gewisse kindliche Unbeschwertheit. Sophie Elmenthaler

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