Matrix

A–Z Vor 20 Jahren, am 17. Juni 1999, wurde der Kultfilm in Deutschland erstaufgeführt. Unser Wochenlexikon schluckt die rote Pille
Ausgabe 24/2019

A

Angleichung Die Wachowski-Brüder, die mit ihrer Regieführung zur Matrix-Triolgie der Durchbruch gelang, sind mittlerweile Wachowski-Schwestern. Aus dem Geschwisterpaar Laurence und Andrew Paul wurden nach einer Geschlechtsangleichung Lana und Lilly. Lana Wachowski trat bereits nach Matrix Reloaded öffentlich als Frau auf. Das war 2003. Im Jahr 2016 zog ihre Jetzt-Schwester Lilly nach. Sie gab bekannt, dass sie bereits zu Schulzeiten ein Unbehagen in ihrer Geschlechterrolle fühlte.

Lilly sagte später, sie habe die Angleichung nur dank der Unterstützung von Freunden und der Familie überstanden. Und sie habe sie nur realisieren können, weil sie Therapeuten und Ärzte bezahlen konnte – ein Privileg, dass nicht viele genießen, die im falschen Körper geboren wurden. Die Schwestern bevorzugen mittlerweile die Bezeichnung „Wachowski Starship“. Konstantin Nowotny

B

Baudrillard Der poststrukturalistische Theoretiker hat einen ganz besonderen Auftritt in Matrix: Sein Buch Simulacres et Simulation ist das Geheimversteck für Neos Software. Die Wachowski-Schwestern (Angleichung) wiesen die Schauspieler an, das Werk zu lesen, noch bevor sie das Drehbuch freigaben. Simulacres et Simulation (1981) behandelt die Bedeutung von Symbolen und Zeichen im Verhältnis zur Gesellschaft. Eine von Baudrillards Kernthesen: Moderne Medien sind selbstreferenzielle Zeichensysteme, die auf nichts konkretes mehr verweisen, sondern für sich selbst stehen. Ein schwerer Schinken, insbesondere, weil Baudrillard kein Interesse am typisch westlich-europäischen Aufbau einer logischen Argumentation hatte.

Auch in Fight Club ist vieles nicht real, sondern alles „eine Kopie einer Kopie einer Kopie“. Worauf das Filmzitat jedoch genau verweist, bleibt dem Zuschauer, der das Werk nicht gelesen hat, verborgen. Baudrillard ist selbst zum selbstreferenziellen Symbol geworden. KN

H

Hauptrolle Vor seiner Rolle als Neo wurde Schauspieler Keanu Reeves lange belächelt und nicht ernst genommen. Das mag am Film Bill & Teds verrückte Reise durch die Zeit gelegen haben, mit dem ihm der Durchbruch gelang. Dort spielt er einen eher einfältigen Jugendlichen (Mantel), der mit seinem Kumpel die Weltgeschichte durchkämmt. Besteht er seine Geschichtsklausur nicht, schickt ihn sein Vater nämlich auf eine Militärakademie. Und: Sie müssten ihre Band (Soundtrack) Wyld Stallyns („Wilde Hengste“) auflösen.

Ein fetziger Stoff für eine Science-Fiction-Komödie – und Reeves meistert als Ted nicht nur die Klausur. Seine Hauptfigur mit Surferslang ist lässig und man muss es erst einmal schaffen, so dämlich mit offen stehendem Mund Maulaffen feilzuhalten. Übrigens hatte Reeves gleich zwei Mal Glück: Sowohl für diesen Film wie für Matrix waren andere Hauptdarsteller vorgesehen. Bei der Zeitreise überzeugte er beim Vorsprechen für eine andere Figur derart, dass er zum Ted wurde. Bei „Matrix“ schließlich sprang Will Smith ab, weil der lieber im Rohrkrepierer „Wild Wild West“ Negativkritiken einfahren wollte. Welche Chance für Reeves, der sie ergriff und als Neo wirklich eine gute Figur macht. Tobias Prüwer

K

Kult Matrix kam in Deutschland am 17. Juni 1999 in die Kinos. Das ist erstaunliche 20 Jahre her, und ich fieberte damals meinem USA-Schüleraustausch entgegen – eine matrixartige Erfahrung, die mich hinderte, an diesem Filmkult partizipieren zu können. Einmal verpasst, bleibt man immer außen vor. Niemand weiß, warum etwas Kult ist, wurde oder nie war (Welt am Draht). Kult hat das mit Erfolg gemeinsam. Alle streben danach, und dennoch scheint es ein schicksalhaftes Unterfangen zu sein. 2002 waren Harald Schmidt und Günther Jauch zu einer für mich kultigen (danke, Youtube) Podiumsdiskussion bei Bertelsmann geladen. Was Kultfernsehen denn sei, werden sie gefragt. Sie wirken dabei unbeholfen, obgleich sie sicher bei irgendwem als Kult-Moderatoren gelten. Und da haben wir die Lösung: Kult ist keine Größe, sondern eine Sichtweise. Jan C. Behmann

M

Mantel Geheimnisvoll, so wollten die pubertären Jungs wohl wirken, wenn sie sich den knöchellangen Neo-Mantel über ihre schmalen Schultern warfen und auch bei trübem Herbstwetter nicht ohne Sonnenbrille vor die Haustür traten. Blöd nur, dass der Mantel, den man teuer bei Versandhändlern für alternative Coolnessfantasien gekauft hatte, den Kontrast zwischen jugendlicher Wunschwirklichkeit und peinlicher Pickelrealität nur umso grausamer zu Tage förderte. Ein Fall für die blaue Pille. (Rote Pille) Aufwachen kannst du später! Marlen Hobrack

P

Philosophie Matrix spielt auf einige Probleme der Philosophie an. Etwa Erkenntnistheorie: Wie können wir sicher sein, dass die Welt real ist, dass wir sie so erkennen, wie sie wirklich ist (Baudrillard)? Was bei Platons Höhlengleichnis die Schatten an der Wand sind, die die Realität nur schal abbilden, sind im Film die gelenkten Hirnströme. Den Menschen wird eine Welt vorgegaukelt. Sie sind, wie im Gedankenexperiment Hilary Putnams, nichts als Gehirne im Tank, deren Erleben einer Außenwelt nur simuliert ist. Neben der moral- und technikphilosophischen Frage – Dürfen intelligente Maschinen Menschen unterjochen? – taucht auch eine ethische Komponente auf: Die Tür des Orakels schmückt der Spruch „Erkenne dich selbst“. TP

R

Rote Pille Kennen Sie dieses Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt? Im Fernsehen sind plötzlich Frauen mit Bart, die den Mund aufreißen; Ihre eigenen Witze ernten nur noch betretenes Schweigen – und überhaupt kann man ja seine Meinung kaum noch sagen. Aber irgendwann macht es Klick. Die „Menschlichkeit“ und „Toleranz“, von der die Politiker ständig reden, ist nur ein Trick, um zu verhindern, dass ein einfacher Mann wie Sie erkennt, was Sache ist: Dieses Land gehört Ihnen nicht mehr, Sie dürfen sich nur noch den Buckel krumm arbeiten, damit die jungen Syrer sich mit den Mädchen vergnügen!

Glückwunsch, Sie haben die Rote Pille genommen. Der „Männerrechtler“ Roosh V. nannte es „red-pilling“, wenn ein Mann sich wie in „Matrix“ für die harte Wahrheit entscheidet und das „Lügengebäude“ der Feministen verlässt. Inzwischen ist es eine beliebte Metapher von Faschos weltweit, für die Humanität nur eine Halluzination ist, von der man sich befreien muss. Johannes Simon

S

Soundtrack Don Davis, der Erschaffer des Matrix-Soundtracks, begann als Jazzrocker. Der 1957 geborene Kalifornier spielte schon in seiner Kindheit Trompete und Klavier, bevor er nach seinem Studium Orchestermusik arrangierte. Bald entstanden erste Filmmusiken für die Serien Hart aber herzlich oder Die Schöne und das Biest.

Nach Arbeiten als Orchestrator, unter anderem für Randy Newman, gelang Davis der Durchbruch als Komponist von „Matrix“. Grundlage der Partitur ist ein einfaches Motiv aus zwei Akkorden. Doch Matrix ist kein leichtes Stück Musik. Im Gegenteil: Minimalistisch, polytonal, dissonant schallt es; kündet von Davis’ Liebe zur Avantgardemusik, zur Neuen Musik, zu Richard Wagner oder Philip Glass. Ein postmodernes, dunkles, komplexes Werk, das elektronische Beats genauso einsetzt wie verzerrte E-Gitarren, Streicher, Chöre und bombastische Special-Effects. Heute ist die Musik in verschiedenen Versionen erhältlich – Don-Davis-Fans empfehlen die längere „Deluxe Edition“ mit 80 Minuten Musik. Marc Peschke

U

Unendlichkeit Ich will und soll was zum Infiniten Regress sagen. Also: Wer hat eigentlich Gott erschaffen und wer hat den erschaffen, der Gott erschuf? Es geht um die Matrix der Matrix der Matrix, sozusagen die Matrixmatrixmatrix. Angeblich lautet der Auftrag: Erklär uns die Unendlichkeit. Ok. Am Anfang war das weiße Blatt, also das leere Dokument im Rechner. Gerade war da noch nichts, schon ist die erste Zeile voll mit Zeichen. Wo waren denn die Zeichen vorher? In meinem Kopf oder in der Tastatur? Spricht hier der Autor persönlich, oder ein von diesem geschaffener Stellvertreter? Wer bin ich? (Philosophie) Und wird der Leser mich verstehen?

Außerdem: Autorin müsste es heißen und Lesende, statt Leser, politisch korrekt. Worauf will die Schreibende hinaus? Vielleicht ist schon der ganze Ansatz falsch. Hilfe! Es gibt zu viele Variablen, wie in einer mathematischen Matrix. Wie könnte sie sich am besten verständlich machen? Es gibt so unendlich viele Arten, die Unendlichkeit zu erklären. Vielleicht sollte sie alles löschen und von vorne anfangen. Dann würde dieser Text für immer verschwinden. Wohin? Sicher ist nur, sie hat sich verpflichtet, die Unendlichkeit mit einer begrenzten Zeichenzahl zu beschreiben. Oder hat sie den Auftrag nicht richtig verstanden? Gab es überhaupt einen Auftrag und wenn ja, wurde er erfüllt? Vielleicht wissen Sie jetzt, was Unendlichkeit ist, falls es Sie gibt und falls es die Unendlichkeit gibt. Könnte das ein Schlusssatz sein? Ruth Herzberg

W

Welt am Draht 1973 gedreht von Rainer Werner Fassbinder, entstand der Fernsehfilm nach dem Science-Fiction Roman Simulacron 3 von Daniel F. Galouye. Auf ihn wird oft als Vorgänger der Matrix-Filme verwiesen, die zwar nicht nach diesem Roman entstanden, aber ein ähnliches Thema behandeln.

Als ich die grandiosen Folgen im „Westfernsehen“ sah, beschäftigte mich der „Erkenntnisschrecken“ der digitalen „Geschöpfe“, nichts als Programme zu sein. Die verzweifelte Suche nach Wirklichkeit empfand ich als Gleichnis für reale Ängste in einer unsicheren Welt. Michael Ballhaus führte Kamera und neben Klaus Löwitsch war die Crème de la Crème der deutschen Schauspielkunst zugange. (Hauptrolle) Ein Meisterwerk und sehr kapitalismuskritisch. In der DDR herrschte starker Fortschrittsglaube. Skepsis angesichts mancher wissenschaftlich-technischer Entwicklungen galt eher als destruktiv. Es gab aber Philosophen, die sich mit Erkenntnis und Täuschung beschäftigten. Magda Geisler

Z

Zukunft Was soll falsch daran sein, Menschen eine virtuelle Realität vorzugaukeln um sie als willenlose Batterien zu nutzen? Man stelle sich vor, Millionen von Mallorca-Fans müssten nur eine Stunde in einem Solarium liegen, erlebten dabei dank ihrer VR-Brillen eine ausufernde Ballermannorgie und würden die Energie für das Spektakel gleich mit ihren Ausdünstungen liefern. Für die anspruchsvollere Kundschaft wären VR-Städtetrips im Angebot. Von Amsterdam bis Zürich ginge ein Aufatmen durch die Bevölkerung. Touristen würden zu Hause auf ihren Pritschen mit imaginierten Selfiesticks herumfuchteln und hätten später dennoch das Gefühl, die Reise vollzogen zu haben. Marc Ottiker

Jetzt schnell sein!

der Freitag digital im Probeabo - für kurze Zeit nur € 2 für 2 Monate!

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen