Seit gestern ist die Ampelanlage ausgefallen und der aus vier Richtungen zweispurig heranrauschende Verkehr sowie zwei Tramlinien versuchen unbeschadet über die Kreuzung zu gelangen. Eben noch hat sie dabei ein junger Polizist unterstützt, mit Einbruch der Dämmerung sind Fahrzeugführer und Fußgänger auf sich allein gestellt. Nun gilt das Recht des Stärkeren, Frecheren, sollte man meinen, stimmt aber gar nicht.
Es sieht zwar etwas chaotisch aus, doch wie bei einem Ameisenhaufen greifen offensichtlich bestimmte Ordnungsprinzipien, so dass der Strom zuweilen stockt, ohne jemals ganz still zu stehen. Manchmal sind es die Fahrradfahrer, die sich als erste in die Bresche werfen und dem kreuzenden Verkehr Einhalt gebieten. Oder größere Fahrzeuge, Lieferwagen zum Beispiel, weil sie es besonders eilig haben vielleicht, oder aber sie haben gemerkt, dass der rollende Schuhkarton neben ihnen Flankenschutz gebrauchen könnte.
Auch bei den Fußgängern gibt es Forsche und Forschende. Wie Schiffbrüchige zu den Rettungsbooten stürzen manche blind auf die andere Straßenseite. Die meisten kommunizieren mit robustem Charme, winken und zwinkern das freie Geleit herbei. Wagt eine kurz Berockte den ersten Schritt, kann in ihrem Gefolge gleich ein ganzer Schwung gemächlich rübermachen.
Selbst rigorose Bei-Rot-Radler zügeln sich - wo sie sonst ihre berechenbaren Kontrahenten auf vier Rädern links stehen lassen, ist nun Abwarten und Verhandeln gefordert. Das Ganze wäre ein ideales Forschungsfeld für Verhaltensbiologen und Stadtsoziologen: Sorgt hier eine Kombination von preußischem Ordnungssinn, südländischem Improvisationstalent und östlichem Gleichmut für unfallfreies Durcheinander? Nach drei Tagen ist eine behelfsmäßige Anlage installiert - das Ende der Anarchie. Aus autonomen Bürgern werden wieder folgsame Ampelmännchen. Souverän zieht die Hochbahn über das Gewimmel hinweg.
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