In den frühen Zehnerjahren unterhielt ich mal eine gutgehende Kolumne in einem kleinen, feinen ostdeutschen Kulturmagazin mit Nacktbildern, in der ich die Praxis des Reinlesens abfeierte. Die Idee hatte ich von Wolfgang Herrndorf geklaut, der sich mal den „König der ersten Seite“ nannte, weil er die gesamte deutsche Gegenwartsliteratur durch die Online-Leseproben auf Amazon draufhatte. In meiner Kolumne beschränkte ich mich streng auf eine Rezension der ersten Seite und gab abschließend eine Weiterlesewahrscheinlichkeit in Prozent ab.
Dieser Trick gestattete es mir, bis in unwirtliche Regionen der Bestsellerlisten vorzustoßen, in denen sprachsensiblere Seelen normalerweise lesend nicht lange überleben. Für diese Folge möchte ich gern ein kleines Revival des kritischen Anlesens unternehmen, das sich allerdings nicht ganz so streng – wir sind schließlich bei Bad Reading – auf die erste Seite beschränken soll.
Von Haruki Murakami – dem japanischen Großmeister des lakonischen Irrealismus, der bizarren Buchtitel (Wilde Schafsjagd, 1982, Hardboiled Wonderland 1985, Mister Aufziehvogel, 1995) und der intellektuellen Unterwältigung – ist jetzt schon wieder so ein Titel erschienen, Die Ermordung des Commendatore I: Eine Idee erscheint, wie ihn sich eigentlich nur Roberto Bolaño für seine Archimboldi-Literaturdetektive in 2666 ausgedacht haben kann.
Wie geht’s los? Als ein namenloser Ich-Erzähler aus dem Mittagsschlaf erwacht, sitzt ihm gleich im ersten Romansatz der (nicht ein!) „Mann ohne Gesicht“ gegenüber, blickt ihn „aus seinen nicht vorhandenen Augen an“ und will, dass der Ich-Erzähler ihn porträtiert. Es entspinnt sich ein kleiner, wie schlecht geträumter Dialog, in dem man erfährt, dass das Roman-Ich ein offenbar unter Zeichenblockade und Papiermangel leidender Meisterporträtierer ist, der allerdings noch nie einen Menschen ohne Gesicht gemalt hat, diesem das gleichwohl versprochen hat, weswegen zwischen den beiden ein ominöses „Pinguin-Amulett“ als Deal-with-the-Devil-Detail kursiert: eine Art Talisman, der die Menschen, „die dir am Herzen liegen“, beschützt und den es folglich einigermaßen wichtig wäre, zu besitzen, denn wer hat keine Menschen, die er nicht gern beschützen würde. Geredet wird „leise“, aber „ohne Intonation“ oder „Wärme“ (hervorragend!). Zwischendurch wird gruselig gelacht, das klingt dann „wie das Heulen des Windes in einer tiefen Höhle“.
Als der ratlose Maler gerade nicht weiß, wo er mit dem Zeichnen beginnen soll, ist die Zeit auch schon um: Der Mann mit dem „milchweißen Nebel“ statt eines Gesichts ist samt Pinguin-Amulett wie weggeweht, als hätte ihn ein „jäher Windstoß“ oder eine noch naheliegendere Metapher erfasst. Diese drei unmagischen Prolog-Seiten gibt Murakami seinem Anti-Helden (und seinem Anti-Leser) knallhart nach der Methode „Friss oder stirb“ zu schlucken: denn sollte dies wirklich nur ein Traum sein, dann „wäre die ganze Welt, in der ich lebte, ein Traum gewesen“. Lieber nicht. Weiterlesewahrscheinlichkeit 0,2666 Prozent.
Ein nach außen hin zunächst ähnlich sympathischer Bestseller wie unser Jazzliebhaber und Marathonläufer aus Japan ist der deutsche Anwalt Ferdinand von Schirach. Vom Autorenfoto blickt uns ein sanftes, angenehm verlebt-lebenskluges Gesicht entgegen. Wenn er nur nicht so sokratisch mit Alexander Kluge über Die Herzlichkeit der Vernunft dialogisieren würde (geht um „das Glück der Bescheidenheit, Voltaire oder die Freiheit durch Toleranz, Kleist oder das Wissen um den Menschen, Terror oder die Klugheit des Rechts, Politik oder das Lob der Langsamkeit“, also alles)! Und wenn nur – auch hier wieder das Problem – seine Buchtitel nicht so amputiert dostojewskiesk reinknallen würden: Verbrechen!
Schuld! Terror!
Und folgt jetzt also die Strafe? – Weit gefehlt und sorry für den billigen Joke. Denn die erste Story „Die Schöffin“ beginnt mit anderthalb wie in lakonischen Stein gemeißelten Seiten Makrofiktion, in der ein ganzer Jugendroman steckt. „Katharina wuchs im Hochschwarzwald auf. Elf Bauernhöfe auf 1100 Meter Höhe, eine Kapelle, ein Lebensmittelgeschäft, das nur montags geöffnet hatte.“
Zwei Sätze perfekter Establishing-Shot in eine deutsche Herkunft: Katharina, das einzige Kind im Dorf, der Vater Prokurist, die Mutter Lehrerin, wird schon früh vom Vater vereinnahmt. Nach der Schule sitzt sie bei ihm Büro rum, in den Ferien nimmt er sie mit auf Geschäftsreisen, nennt sie „Schneewittchen“ und freut sich, wenn Kunden sie für seine „sehr junge Frau“ halten.
Als Katharina vierzehn ist, fährt die Mutter sie eines Wintertags mit dem Auto zur Schule, sie überholen einen Lastwagen, auf dem „Südfrüchte“ steht, „jeder Buchstabe in einer anderen Farbe“. Die Mutter sagt ihr, dass der Vater eine neue Frau hat und nicht mehr bei ihnen wohnt … – Bumm, Kindheit zu Ende, Fall-Akte geöffnet, Filmrechte verkauft! Weiterlesewahrscheinlichkeit 10o Prozent. (PS: Folge geleistet und bei Stories wie Tennis dann doch wieder leider schnell bei null. Das sind dann nur noch auf den Bierdeckel der Paris Bar gekritzelte Film-Treatments, die meinetwegen der Filmregisseur Michael Haneke emotional beklappentexten kann.)
Was uns den Milchschweinen und Sirenen in die Arme treibt, ein wunderbar aufgemachtes Buch aus dem kleinen Peripetie-Verlag – hinter dem die beiden Künstlerinnen und Berliner Bar-3-Betreiberinnen Jelena Trivic und Karola Prutek stecken – mit dem besten Murakami-Titel. In dem erstmals vorliegenden Kunst-Gedichte-&-Geschichten interessierte mich vor allem der Arztroman-Auszug Dr. Eisen. Leidenschaft und Analyse, von der mir bis dahin völlig unbekannten Autorin Miriam Glinka. Hier wird nicht groß rumüberhöht, hier wird Trivialliteratur endlich ernst genommen.
Super allein schon der Einstieg: „Seufzend“ schließt Dr. Klaus Eisen am Ende eines harten Arztroman-Tages die Tür zum Behandlungszimmer und macht sich, „immer einen Ersatzflakon seines Aftershaves bei sich“, kurz frisch. Eisen ist Analytiker, mag seinen Beruf und sich selbst und hält vor dem nächsten Patienten noch mal seinem gutbürgerlichen Gesamterscheinungsbild – attraktives volles Haar, Scheidung von Jugendliebe Corinna nach 25 Jahren, drei Kinder, demnächst Romantikreise nach Venedig mit Kultur, Rotwein, Venezianerinnen – den „Taschenspiegel“ vor. Triviale Lesefreude pur: mit dem nötigen Spaß am affirmativen Bullshitting startet Glinka voll durch in das Lebensgefühl Vorabendserie. „Er empfahl ihr, einen befreundeten Kollegen aufzusuchen. Eine Psychoanalyse könne nicht schaden, meinte er. Corinna war anfangs sehr verletzt von diesem Vorschlag gewesen, nahm ihn jedoch an. Endlich eine Sorge weniger ...“ Weiterlesewahrscheinlichkeit 68 Prozent.
Info
Die Ermordung des Commendatore. Band 1: Eine Idee erscheint. Haruki Murakami Ursula Gräfe (Übers.). Dumont 2018, 480 S., 26 €
Strafe: Stories Ferdinand von Schirach Luchterhand 2018, 192 S., 18 €
Milchschweine und Sirenen. Band 1. Karola Prutek, Jelena Trivic (Hrsg.), Peripetie Verlag 2018, 19 €
Die Bilder des Spezials
Zuerst ist da ein leeres weißes Blatt Papier mit unendlichen Möglichkeiten, bald findet sich darauf eine absurde Welt der Abstraktion. Zu sehen sind fiktive Gebäude, unendliche Tunnel, lauernde Treppen. Es gibt rätselhafte Hinweise. Nur: Nie führen diese zur Auflösung des Rätsels.
Die Illustratorin Pia-Mélissa Laroche, Jahrgang 1985, zeichnet surreale Welten. Sie will die Macht der Suggestion hinterfragen. Sie sagt: „Wie die Krypten der christlichen Kirchen oder Nabateans Gräber sind diese architektonischen Strukturen direkt in den Boden gehauen. Sie drängen sich durch Subtraktion auf, um unzerstörbar und mehr als je zuvor zu werden. Mit einer extremen Haltbarkeit trotzen die ,Hyper Residenezen‘ Zeit und Raum.“ Laroche lebt und arbeitet in Paris.
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