Ausgebrannt

Dokumentation: Wirtschaft des Irak Fatale Indikatoren - doch zehn Jahre könnten zur Erholung reichen

Jüngst veröffentlichte das Planungsministerium in Bagdad eine "Strategie des nationalen Wachstums für 2005-2007", die - komplettiert durch Daten von UNO und Weltbank - erstmals seit 2003 eine Gesamtanalyse der irakischen Ökonomie gestattet. Um das Fazit vorwegzunehmen: Innerhalb von 25 Jahren wurde aus einem der entwickeltsten Länder der arabischen Welt eines mit den niedrigsten Wachstums- und Sozialindikatoren. Symptomatisch ist der Zustand des Ölsektors, der über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 95 Prozent der Deviseneinnahmen sichert. Nur bei erheblichen Investitionen - allein zur Sanierung der Anlagen - wird es möglich sein, wieder das Produktionsniveau des Jahres 1990 (vor dem damaligen Golfkrieg) zu erreichen.

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung schrumpfte von 4.200 Dollar im Jahr 1980 auf 300 Dollar Mitte der neunziger Jahre und lag 2004 immer noch bei mäßigen 630 Dollar. Die Arbeitslosenrate ist mit geschätzten 30 Prozent eine der höchsten in der Region - und damit doppelt so hoch wie in Nordafrika. Bei einer Gesamtbevölkerung von 27 Millionen Menschen sind etwa 16 Millionen im berufsfähigen Alter, von denen jedoch lediglich 6,7 Millionen - 41 Prozent der verfügbaren Arbeitskraft - tatsächlich beschäftigt sind. Kaum überraschend, wird in Betracht gezogen, dass die 192 größeren Staatsunternehmen (Beschäftigungszahl: 500.000) durch Kriegshandlungen und spätere Plünderungen starke Schäden erlitten haben. Erschwerend kommt hinzu, dass über 85 Prozent der Privatbetriebe durch die Wirtschaftssanktionen der neunziger Jahre still liegen. Dieses Dilemma wie auch der Wegfall nahezu sämtlicher sozialer Hilfssysteme des Staates beherrschten derzeit "die Psyche von Millionen Irakern", heißt es im eingangs erwähnten Papier des Planungsministeriums.

Lediglich 15 Prozent der Bevölkerung werden augenblicklich regelmäßig mit Strom, 20 Prozent durchgehend mit Trinkwasser versorgt. Beträchtliche Rückschläge hat auch die medizinische Versorgung hinnehmen müssen - allein die Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren liegt mit 133 je 1.000 heute deutlich über dem vergleichbaren Wert in Jordanien (33 je 1000) oder im Jemen (107 je 1.000). Bei Geburten liegt die Sterberate bei 107 je 1.000 und damit auf gleicher Höhe wie in den Staaten der Sahelzone. Auch die Höhe der Müttersterblichkeit ist mit 193 je 100.000 Geburten erschreckend hoch, verglichen mit 41 auf 100.000 in Jordanien und 25 je 100.000 in Kuwait.

Bedenklich erscheint auch, wie der Anteil des Agrarsektors am Bruttoinlandsprodukt stetig abnimmt, und damit die rapide Zunahme der Bevölkerungszahl seit 1975 - sie lag zuletzt mit einem durchschnittlichen Plus von 3,6 Prozent pro Jahr doppelt so hoch wie in Indien - durch ein eigenes Nahrungsgüteraufkommen nicht kompensiert werden kann. Noch 1980 importierte der Irak etwa die Hälfte seines Bedarfs an Lebensmitteln - seit 2002 steigen die Einfuhren bei Getreide, Reis, Zucker, pflanzlichen Ölen und Eiweißprodukten auf 80 bis 100 Prozent.

Kurz vor der US-Invasion (März 2003) lag die Auslandsverschuldung des Landes bei astronomischen 125 Milliarden Dollar, von denen 42 Milliarden auf die Länder des "Pariser Klubs" entfielen. Auch wenn die im Vorjahr einem Erlass von 80 Prozent der Schulden zugestimmt haben, bleiben die daran geknüpften Auflagen kompliziert, weil sie nur mit einem nationalen Wiederaufbauprogramm zu erfüllen sind. Doch lassen sich die dafür veranschlagten 150 Milliarden Dollar derzeit weder extern geschweige denn intern aufbringen.

Im Hinblick auf zukunftsträchtige Maßnahmen kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der Irak über strategisch einsetzbare Ressourcen (die zweitgrößten Ölreserven der Welt, im arabischen Vergleich ergiebige Wasserressourcen und eine entwickelte Infrastruktur) verfügt, die eine Wachstumsdynamik wie in den Golfstaaten ermöglichen. Mit anderen Worten, ohne Bürgerkrieg und Besatzungsmacht, bei einer angemessenen internationalen Finanzhilfe könnte der Irak innerhalb eines Jahrzehnts wieder das wirtschaftliche Niveau der arabischen Länder mit mittlerem Einkommen erreichen. Dazu müssten allerdings neue Ressourcen erschlossen werden, um die Erdölabhängigkeit zu überwinden. Die Landwirtschaft, der Tourismus, inklusive des religiösen Tourismus, könnten dabei eine Rolle spielen und für neue Arbeitsplätze sorgen. Doch erscheint das nur denkbar, sollte es innerhalb der nächsten Monate zumindest Ansätze der inneren Befriedung geben.


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