Im Liegen kann man nicht nur schlafen: Vom Verlangen sich hinzulegen

Sachbücher Jeden Monat liest Prof. Erhard Schütz für uns gute Sachbücher. Dieses Mal freut er sich über Wälzer zu Marcel Proust und zum Berliner Film, seine „Bettlektüre“ handelt vom Nizza des großen Fritz J. Raddatz
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 33/2022
Die Historie des deutschen Kinos lässt sich hervorragend im Bett liegend nachlesen
Die Historie des deutschen Kinos lässt sich hervorragend im Bett liegend nachlesen

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Das hier hätte ich gerne viel früher zur Kenntnis gegeben, aber eine Sendung vom 12. Februar brauchte bei DHL sage und schreibe bis zum 21. April, um bei mir anzukommen. Wobei die Ankunft überhaupt einem Wunder gleichkommt. Es handelt sich um das Handbuch zu ProustsRecherche“ von Bernd-Jürgen Fischer, auf das ich sehnlichst wartete. Da um den 18. November, zum 100. Todestag, wohl noch einmal mediale Wunderkerzen gezündet werden, lege ich’s dem Publikum schon jetzt ans Herz.

Der handliche Wälzer enthält unter anderem eine Biografie von 30 Seiten, eine pointierte Darstellung zur Rezeption nebst Liste der weltweiten Übersetzungen wie der Umsetzungen in die verschiedensten Medien, vor allem eine prägnante Skizze zum Aufbau des Romans wie zum zeitgenössischen kulturhistorischen Kontext, schließlich noch zur Geografie des Romangeschehens. Und als Herzstück ein alphabetisches Register, das keinerlei Wünsche offenzulassen scheint. Die Seitenzahlen beziehen sich zwar auf Fischers eigene Übersetzung bei Reclam, aber dank einer Umrechnungstabelle kann man sich alle anderen deutschsprachigen Übersetzungen erschließen.

125 Jahre Kinogeschichte Berlins – und damit weithin deutsche Filmgeschichte. Das geht entweder in einer Enzyklopädie oder – wie hier – in Querschnitten, Blitzlichtern und Anekdoten. Oliver Ohmann gelingt es dabei, die Wiege des stummen, tönenden und farbigen Films aufs Plastischste zu porträtieren. Weniger zwar die Stadt der Kinos und ihres Publikums, der Firmen und ihrer Lokalitäten, dafür aber die Entwicklung des Films in Berlin und die Bilder der Stadt in Filmen aus und über Berlin. Dazu Porträts von Regisseuren und Schauspielerinnen und immer wieder verblüffende Details. So evozieren Text und Abbildungen beständigen Wechsel zwischen erinnerndem „Ach ja!“ und erstauntem „Ach, tatsächlich?“.

Veit Harlans Propagandafilm Jud Süß hat nicht nur seit 1940 den Antisemitismus der Deutschen bestätigt und gesteigert, sondern später auch wissenschaftliche Analysen jedweder Provenienz stimuliert. Zumal neben diesem noch weitere drei der vielen, die er produzierte, bis heute „Vorbehaltsfilme“ geblieben sind, also solche, die nur unter wissenschaftlich-pädagogischer Begleitung vorgeführt werden dürfen (was wenig besagt, da man sie ohne Weiteres aus den USA und im Netz bekommen kann). Vor allem hat Harlans dreiste Verstocktheit nach 1945 (beflügelt durch einen einschlägigen Prozess, der ihn, wenn auch von vehementen Protesten begleitet, entlastete und Gabriele Tergit als journalistische Beobachterin an Deutschland zweifeln ließ) als Stachel gewirkt, sich dieser Figur und dieses Films immer wieder anzunehmen, weshalb man bezweifeln darf, ob ein neuerliches Buch dazu noch Erhellendes beibringen kann. Indes, fundiert in weitreichenden Recherchen und stärker fokussiert auf das Nachleben dieses perfide raffinierten Werks, ist Bill Nivens überlegte Darstellung gelungene Zusammenfassung und Ergänzung zugleich. Ergänzung insbesondere über den Prozesshansel Harlan und ein eher unbekanntes Kapitel, nämlich den propagandistischen Einsatz des Films in der arabischen Welt gegen Israel, wobei die DDR eine einschlägige Rolle spielte.

Er sei kein Autor von Reiseführern, sondern „Schriftsteller mit Gedächtnis und voll Erinnerung“, sagt Fritz J. Raddatz, der 2015 verstorbene Paradiesvogel des weitschweifigen Journalismus, mitten in seinem Bändchen über Nizza, wo er lange lebte. 2010 zuerst erschienen, ist es auch jetzt noch höchst lesenswert, ob man nun dort war, hin- oder nur informiert sein will. Schon damals mit Oligarchen-Ekel ausgestattet, demontiert er Mythen, etwa über den Blumenmarkt, um sie mit neuen Faszinosa zu verspinnen. Er erzählt vom wunderbaren Essen, vom deutschen Exil dort, macht eine Exkursion nach Monte Carlo, besucht Museen, etwa von Picasso oder Léger, zeigt die Stadt als Freilichtmuseum und lehrt, wie man dort unentwegt hinzulernend spaziert.

Man kann natürlich auch zu Hause im Bett bleiben und beispielsweise ein Buch übers Bett lesen. Wenn ein renommiertes Paar Archäologen eine Geschichte des Bettes schreibt, könnte man ein hartes Lager in trockenem Staub erwarten. Da sie aber aus England stammen, geht es in ihren historischen Betten durchaus munter zu. Das beginnt mit dem Verlangen, sich hinzulegen. Aber im Liegen kann man nicht nur schlafen, sondern auch beischlafen. Ehelich – allein das Verhältnis von Hochzeit und Bett in den Kulturen rund um die Welt! Oder unehelich. Weit häufiger als zum darauf öfters folgenden Gebären wird und wurde das Bett zum Tafeln oder Hofhalten genutzt, was wiederum … Oder zum Sterben. Auch das ein nicht unwesentliches Kapitel. Schließlich die Zukunft des Bettes … Unterhaltsam und lehrreich.

Handbuch zu Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ Bernd-Jürgen Fischer Reclam 2022, 822 S., 18 €

Klappe! Geschichte der Filmstadt Berlin Oliver Ohmann Elsengold 2022, 256 S., 26 €

Jud Süß. Das lange Leben eines Propagandafilms Bill Niven Mitteldeutscher Verlag 2022, 240 S., 18 €

Nizza – mon amour. Eine Liebeserklärung an die spröde Schöne des Mittelmeers Fritz J. Raddatz Arche 2022, 112 S., 10 €

Was im Bett geschah. Eine horizontale Geschichte der Menschheit Nadia Durrani, Brian Fagan Reclam 2022, 269 S., 24 €

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