Autor Drago Jančar: „Nicht Jugoslawien war schuld, es war das System“
Interview Slowenien ist in diesem Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Drago Jančar gilt als der bedeutendste Schriftsteller seines Landes. Norbert Mappes-Niediek hat ihn in Ljubljana getroffen
Slowenien, 1991: Männer begutachten ein zerstörtes Panzerfahrzeug
Foto: picture alliance/Associated Press
Am Fenster vorbei streben Touristen aus Amerika, Japan, Frankreich zum prächtigen Denkmal des Nationaldichters France Prešeren (1800 – 1849) und den berühmten drei Brücken. Am Treffpunkt, im eleganten Café des gleichnamigen Grand Hotels in Ljubljana, der Hauptstadt Sloweniens, ist von der Ära des Sozialismus nichts mehr zu spüren. Mit Drago Jančar kommt ein bescheidener Weltmann von der Art, wie man sie in kleinen Staaten treffen kann. Mit wenigen Strichen fügt er die drei Jahrzehnte seines Lebens unter Tito in die Geschichte seiner Nation und ganz Europas ein.
der Freitag: Herr Jančar, leider spreche ich kein Slowenisch, und so habe ich Ihnen für das Interview drei Sprachen angeboten: Deutsch, Englisch, Kroatisch. Sie haben sich
Englisch, Kroatisch. Sie haben sich Kroatisch ausgesucht. Warum?Drago Jančar: Es ist mir ähnlich nahe wie das Englische. Auch die deutsche Sprache ist mir nicht fremd. Aber da ich immer hier gelebt habe, fällt mir das Kroatische doch leichter. Ich habe allerdings auch kein Problem mit diesen Unterschieden – Kroatisch, Serbisch …Auch in Ihren Romanen, so kommt es mir vor, spielen Sprachbarrieren keine große Rolle. Wenn ich an „Nordlicht“ denke, den Roman von 1984: Der Protagonist Josef Erdmann ist Österreicher, bewegt sich aber ohne Schwierigkeiten in einer slowenischen Umgebung.Nun, Erdmann hat seine Kindheit in Maribor verbracht, und die hiesigen Deutschen haben das Slowenische überwiegend beherrscht. Aber es stimmt, ich habe auf das Sprachproblem keinen besonderen Wert gelegt. Ich wollte den Leser damit nicht belästigen. Die Menschen kommunizieren über die Sprachen hinweg. Die Literatur hat die Macht, solche Hindernisse zu überwinden. In Die Nacht, als ich sie sah, wird Slowenisch, Deutsch und Serbisch gesprochen. In der Bühnenfassung hat sich der Regisseur entschieden, für die Aufführung in Maribor alle drei Sprachen zu verwenden – mit Übertiteln. Die Rolle des deutschen Arztes und Offiziers wurde von Daniel Jesch gespielt, einem Schauspieler des Wiener Burgtheaters. Das hat gut funktioniert.Entspricht das auch Ihrer Alltagserfahrung, dass die Sprache nicht so wichtig ist?Ich habe mit meinem schlechten Deutsch wunderbare Freundschaften geschlossen. Bis fünf Uhr morgens haben wir über Protestantismus und Katholizismus in Deutschland diskutiert. Wenn man den richtigen Gesprächspartner hat, findet man auch die richtigen Worte.Man sagt scherzhaft, Österreich sei das einzige slawische Land mit Deutsch als Amtssprache.Österreich ist ein Paradox. Alle diese Nationen, Slowenen, Tschechen, Slowaken, haben sich in der Donaumonarchie erst gebildet. Die gesamte Kultur, die nationalen Sichtweisen ... – konfliktreich allerdings, in langen nationalen Kämpfen.Sie haben einmal gesagt, auch der Hass in Slowenien zwischen Klerikalen und Liberalen sei ein österreichisches Erbe.Ja. Der Liberalismus kam als etwas Deutsches. Die Slowenen waren Bauern; es gab wenig Bourgeoisie, kaum Unternehmer, kaum eine Kulturschicht. Zu Hause war nur die Kirche. Wer fortging, auf die Universität, kam mit liberalen Ideen zurück. Der Streit zwischen Klerikalen und Liberalen reicht von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute – über Mutationen hinweg, auch über den Kommunismus.Wobei die Kommunisten die Liberalen waren.Nicht alle. Heute berufen sich ihre Nachfolger auf die liberale Tradition. Aber im Kommunismus wurden Liberale massenhaft eingesperrt. Ljubo Sirc, ein sehr bekannter Liberaler, wurde in einem stalinistischen Prozess 1948 sogar zum Tode verurteilt. Boris Furlan, der bei James Joyce Englisch gelernt hat, ebenfalls; später wurde er begnadigt. Mit diesen Kreisen haben die Kommunisten sogleich abgerechnet. Aber der Geist von Klerikalismus und Liberalismus ist in der Luft geblieben.Einige Ihrer Romane spielen in Maribor. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Autor seine Heimatstadt zur Metapher für die Welt macht. Aber Ihnen, so scheint es mir, geht es tatsächlich um die Besonderheit dieser zweitgrößten Stadt Sloweniens.Meine Kindheit war angefüllt von solchen Erzählungen: immer Krieg, Krieg, Krieg, Besatzung, Gestapo, Partisanen und alles das. Für mich war alles furchtbar lange her. Dann, Anfang der Neunzigerjahre, begann das alles zurückzukommen – der kurze Krieg in Slowenien, die Belagerung von Sarajevo, wo ich mit einer Gruppe von Schriftstellern hingereist bin. Selbst war ich nicht im Krieg gewesen, aber ich hatte permanent davon gehört. Da habe ich mich dann entschlossen, über den Zweiten Weltkrieg zu schreiben.„Nordlicht“ ist aber schon von 1984. Da geht es um den Vorabend, das Jahr 1938.Das ist der Embryonalzustand eines Europa, das in den Krieg zieht. Da ist Maribor die Metapher für Europa – wie Danzig; dieser national hochempfindliche Raum. Die anderen beiden Romane …… „Die Nacht, als ich sie sah“ und „Wenn die Liebe ruht“ …… habe ich dann aber tatsächlich aufgrund der Kriegserfahrung der Neunzigerjahre geschrieben. In Maribor empfand ich den Genius Loci, und gleichzeitig war Maribor eine Metapher. Es hätte alles auch anderswo geschehen können.Das heutige Maribor ist das Produkt einer gesellschaftlichen Teilung. 1910 gaben mehr als 80 Prozent Deutsch als Umgangssprache an, 1921 noch 21 Prozent. Heute ist das deutsche Element verschwunden. Es heißt, dass solche Ergebnisse von Teilungen sich mit Versöhnung besonders schwertun, Feindschaft sich dort besonders lange hält. War es so in Maribor?Nun, es gibt keine Deutschen mehr in Maribor – ein besonderer Typ Versöhnung sozusagen.Trennung, aber keine Versöhnung. Es gibt ja, wie wir aus Deutschland wissen, zum Beispiel auch einen Antisemitismus ohneJuden.Ja, es gibt in Maribor noch ein starkes antideutsches Ressentiment. Und noch heute tut man sich in Kärnten mit dem slowenischen Element schwer. In Maribor ist es so: Nachdem die Stadt nach dem Ersten Weltkrieg an Jugoslawien gefallen war, blieb ein vor allem ökonomisch starkes deutsches Element zurück, der nationale Gegensatz wurde zu einem sozialen.Placeholder authorbio-1Dann überfiel die Wehrmacht Jugoslawien, und Hitler befahl, dieses Land „wieder deutsch“ zu machen.Ja, das ist der große Bruch. In Ljubljana haben 1903 große Demonstrationen stattgefunden, weil Deutsche in der Kleinstadt Ptuj Slowenen auf einer Kundgebung angegriffen haben. Die Armee hat dann zwei Demonstranten erschossen. Zwei Todesopfer in fünfhundert Jahren österreichischer Herrschaft, und darüber hat das Parlament in Wien dann zwei volle Tage lang gestritten! 1918 kamen die Slowenen zu Jugoslawien, und schon im Jahr darauf erschoss die Polizei bei einem Eisenbahnerstreik 22 Menschen. Da haben sich die Leute gefragt: Wo sind wir hier gelandet? Es folgten eine Wirtschaftskrise, Korruption, eine neue Sprache, eine schwache Währung – eine große Enttäuschung. Als dann 1941 die Wehrmacht kam und die deutsche Minderheit sie mit Heilrufen begrüßte, standen, wie Fotos zeigen, auch viele Slowenen in der Menge. Man dachte, jetzt kommt das alte Österreich zurück. Aber es kam die Gestapo. In kurzer Zeit haben sie 500 Menschen umgebracht – eine enorme Zahl in so einer kleinen Stadt. Dann, 1945, beginnt die Gewalt gegen die deutsche Minderheit. Die meisten sind geflüchtet, und gerade unter denen, die blieben und umgebracht wurden, waren die meisten unschuldig. Die Erinnerung daran hat sich nie verflüchtigt.In Ihrem jüngsten Roman „Als die Welt entstand“, der 1961 spielt, kommt eine Familie Reiner vor. Ist es klar, dass es sich um Deutsche handelt?Mehr oder weniger ja. Mit dem Sohn der Familie, die im Roman Reiner heißt, war ich befreundet. Plötzlich verschwand die Familie, was ich als sehr schmerzhaft empfunden habe.Die autobiografischen Züge im jüngsten Roman sind offensichtlich. Überrascht haben mich die biblischen Bezüge. Entsprechen sie dem Erleben des 13-jährigen Drago Jančar, oder helfen sie eher dem 70-jährigen dabei, dem Geschehen einen Sinn zu geben?Ich muss sagen, dass vieles im Roman erfunden ist. Se non è vero, è ben trovato. Die Basis aber ist tatsächlich selbst erfahren – meine Erfahrungen mit dem Kommunismus. Der Vater war zwar nicht in der Partei …… aber Partisan, oder?Er war ein Illegaler, er war im Widerstand.Und er war im KZ.Ja. Er war überzeugt von seiner Sache. Im Roman beschreibe ich den Verein der Kämpfer, in dem er verkehrte. Da herrschte eine besondere Mentalität vor, ein bisschen roh, grob, ein bisschen angeberisch. Die Mutter dagegen kam aus einer katholischen Familie. Der Junge, und mit ihm fast seine ganze Generation, steht zwischen zwei Welten, zwei großen Systemen. Hilfe findet er bei einem Lehrer, der – das ist seine große Sünde – auch während der Besatzungszeit Unterricht gegeben hat.Der Lehrer hat also kollaboriert?Er hat an einer deutschen Schule unterrichtet, er war ein halber Kollaborateur. Nach dem Krieg wusste er, dass er sich zurückhalten musste, und er bekam keine Anstellung. Die Heilige Schrift hat er besser verstanden als der katholische Geistliche und dem Jungen so geholfen, den Bruch zwischen den Welten zu überstehen. Vom Vater hörte der Junge nur, dass die Kirche lauter Dummheiten und Lügen verbreiten würde.Haben die Systeme denn in einem tieferen Sinn überhaupt konkurriert? War im Kommunismus nicht auch viel Katholizismus enthalten?Schon, aber gerade darum gab es ja so viel Animosität zwischen ihnen. Die Kommunisten hatten auf eine Art eine neue Religion gestiftet. Tito trat in unserem Leben auf wie ein biblischer Prophet, wenn wir ihn im Kino in seiner weißen Uniform über die Leinwand schreiten sahen. Aber ich muss dazusagen, dass unter den Kommunisten längst nicht alle Gläubige waren. Viele waren einfach Opportunisten, wie bei den Nazis auch.In „Nordlicht“, Ihrem großen Maribor-Roman, ist die Stadt düster, geheimnisvoll, fast ein magischer Ort. Nie weiß man, was ist Traum, was ist Wirklichkeit. Ihre letzten beiden Romane kann man dagegen wie zeitgeschichtliche Dokumente lesen. Was hat sich verändert? Maribor? Oder der Autor?Ich bin halt älter, experimentiere nicht mehr so viel. Es drängen sich weniger phantasmagorische Szenen in meine Vorstellung. Aber der Junge in meinem jüngsten Roman hat in schwierigen Situationen durchaus noch solche Fantasien – etwa, dass der Bruder stirbt, zu einem Fisch wird, zu einem Mörder.Seit langer Zeit kreist Ihr erzählerisches Werk um den Zweiten Weltkrieg. Der Zerfall Jugoslawiens, den Sie selbst erlebt haben, ist dort aber kein Thema. Warum?Er ist Thema in meinen Essays gewesen. Für mich persönlich war er aber keine so entscheidende Erfahrung, so wichtig das auch war. Ich habe meine Kontakte behalten. Schließlich habe ich den größten Teil meines Lebens in diesem Land zugebracht, schlecht und recht – mehr schlecht als recht, vieles, was damals geschah, könnte heute nicht mehr passieren. Aber nicht Jugoslawien war schuld, es war das System. Ich habe diese nationale Mischung gemocht – angefangen bei den Albanern im Süden, über das biblische Mazedonien, die Serben mit ihrem schwarzen politischen Humor, der manchmal auch gefährlich sein kann, die kroatische Pathetik … Mein Drama Der große brillante Walzer von 1985 handelt davon. Das war riskant damals. Ich war nicht glücklich über den Zerfall. Aber nach der Entwicklung in Serbien ging es nicht anders.Der verstorbene kroatische Schriftsteller Predrag Matvejević hat Sie einen Jugo-Nostalgiker genannt.Ich musste Matvejević dementieren. Die jugoslawischen Rituale, etwa zu Titos Geburtstag, habe ich als junger Mensch einfach nicht ertragen. Ich weiß, manche waren glücklich damit. Andere haben gesagt: Die Menschen wollen es so. Ich habe die Heuchelei gehasst, die rote Bourgeoisie im angeblichen Arbeiterstaat, die Verhaftungen. Aber ich bin unbedingt dafür, dass wir kulturell auf allen Ebenen zusammenarbeiten und dass alle Ex-Jugoslawen in die Europäische Union kommen. Wir haben uns als Schriftsteller aus allen Teilen Jugoslawiens schon 1998 in Frankfurt getroffen und ebendas gefordert. Aber von Belgrad bis nach Ljubljana hat das niemanden interessiert.Sind Sie pessimistisch für die Zukunft? So kommt mir jedenfalls die Grundaussage Ihres letzten Romans vor.Wirklich? Pessimistisch?Ja. Sätze wie: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg, das Quantum an Gewalt in der Welt ist immer gleich …Puuuh … das ist ein bisschen scharf formuliert. Ich habe das geschrieben, als gerade der Krieg in der Ukraine begann. Aber trotzdem glaube ich nicht, dass der Roman pessimistisch ist. Da liegt der Junge träumend im Gras, denkt an ein Paradies. Nach allem, was er durchgemacht hat, steht ihm die Welt doch offen.So hat es meine Frau, die den Roman ebenfalls gelesen hat, auch gesehen.Echt? Da bin ich ihr sehr dankbar!Placeholder infobox-1
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