Blaumachen

A–Z Wenn es nach Peter Altmaier geht, haben Krankenscheine in Papierform ausgedient. Auch vor dem „Gelben“ macht die Entbürokratisierung nicht Halt! Unser Wochenlexikon
Ausgabe 39/2019

A

Amanda Blaumachen im Deutschpop, das hört sich zum Beispiel so an wie Amanda feat. Sido. Was die Berliner Rapperin auf ihrer Single aus dem Jahr 2017 besingt, das ist ein Aufruf dazu, erst einmal langsam zu machen: „Hey! Guck, der Himmel ist blau. Komm, das machen wir auch. Mann, dein Laptop ist grau. Klapp ihn zu! Mach ihn aus!“ (Freischaffend)

So und viel schlimmer klingt heute ein Soundtrack zum Nichtstun, eine Hommage ans Laisser-faire im deutschen Mainstream-Pop. Wer es sich hart geben will, der schaue sich das Video an, wo Amanda und Rapper Sido in Strandklamotten unter Palmen, mit Taucherbrille, Strandmatte, Strohhut und Badeflosse als Accessoires, ihren vollkommen ausgelutschten Sunshine-Reggae abfeiern. Blaumachen in der deutschen Popmusik, das wird in diesen Tagen so getextet: „Immer nur ackern – nein, Mann, es reicht jetzt! Ich will nicht warten auf’n Feierabend. Will lieber los und gleich was starten. Komm, sei doch ehrlich! Du bist wie ich, du hast auch kein’n Bock. Also lass gehn! Mach Stopp!“ Hilfe! Marc Peschke

B

Babys Die Kleinsten gehören zu den schlimmsten Blaumachern. Ständig verstopft ihre Nase, während ihre untere Körperhälfte trieft und kleckert. Schnoddernasen und müde Triefaugen gehören zum desperaten Daueranblick in Krippen und Kindergärten. Fieber, Husten, Heiserkeit und – Gott bewahre – schlimmere Kinderkrankheiten lassen sich in einen gut gefüllten Krippenalltag sowieso nicht integrieren. Nur: Was tun, wenn das Kleinkind krank ist, Mama und Papa aber arbeiten müssen? Fiebersäfte und Hustenmittelchen können auch von Erziehern verabreicht werden, denkt sich so manches patente Elternpaar.

„Kranke Babys gehören nicht in die Kita!“, erklären deshalb hübsch gestaltete Aushänge und Elternbriefe, mehr flehend als mahnend. Eigentlich selbstverständlich? Aber doch nicht, wenn Muttis Job leider nur befristet ist. Und Papas Bürotag von 9 bis 19 Uhr dauert (Struktur). Fazit: Soll sich der blaumachende kleine Hosenmatz doch bitte mal nicht so anstellen! Marlen Hobrack

F

Freischaffend Mein Tennislehrer aus Jugendtagen verwies bei jeder Gelegenheit darauf, dass er als Selbstständiger ja „selbst“ und „ständig“ sei, was ich in der Naivität meiner Adoleszenz nur mäßig nachvollziehen konnte. Und auch nur mäßig lustig fand. Konnte ja keiner ahnen, dass ich Jahre später meine ersten Schritte als freischaffender Autor auf dem journalistischen Parkett wagen würde. Sonst hätte ich bestimmt zugehört.

Denn was haben alle Freelancer-Tätigkeiten gemein? Die Meritokratie! Ein Tennislehrer mit schlechter Rückhand wird so wenig bezahlt wie ein Journalist mit schlechten Texten (Optimierung). Oder ein krankgeschriebener, weil ihn die Grippe erwischt hat. Der Mann, der mir damals die Bälle zugespielt hat, wurde für seine Selbstständigkeit übrigens mit einem Audi belohnt. Höchste Zeit für einen „Gelben“. Dorian Baganz

I

Innere Abwesenheit Nicht jeder, der am Vorabend in der Kneipe versackt ist, besitzt die Skrupellosigkeit, am nächsten Tag auf seine Pflichten zu pfeifen. Wenn einen tags darauf der Wecker aus dem dreistündigen Schlaf reißt, endet auch der schönste Rausch abrupt. Und so schleppt man sich frierend, seine Entscheidungen in Frage stellend und mit einem ordentlichen Flimmern in der Birne aus dem Haus.

Doch der Körper besteht auf seinem Willen: Wenn er schon aus dem warmen, weichen Bett hinaus in die menschenfeindliche, kalte Welt gezwungen wird, will er wenigstens nicht denken müssen. Physisch Anwesenheit vorgaukeln, na gut. Aber dann muss der Kopf kürzertreten (Amanda). So hängt man im Hörsaal oder im Büro, versucht verzweifelt produktiv zu sein, ist aber in Wachträumen gefangen. Plötzlich übermannt die Müdigkeit die Disziplin, die Augen fallen zu, und kurz darauf schreckt man hoch, voller Scham und Angst, erwischt zu werden. Aber keine Angst: Der Hälfte der Kolleginnen und Kollegen geht es ohnehin genauso!Josa Zeitlinger

M

Mondays Irritierend an den „Fridays for Future“-Leuten ist, dass einem ihr Protest so unfassbar vernünftig erscheint. Man selbst war ja als junge Erwachsene unfassbar egozentrisch unterwegs, war temporär komplett mit sich selbst beschäftigt. So wie Beck: I’m a loser baby, so why don’t you kill me? Die Friedensdemo gegen den NATO-Doppelbeschluss im Bonner Hofgarten im Oktober 1983 hatte das Kind wohl immerhin am Fernseher verfolgt, bei der Demo 1991 gegen den Golfkrieg war die Studentin der Politologie nachweislich körperlich anwesend (Innere Abwesenheit). Vielleicht war die Einstellung sogar besser. Engagierter. Kämpferischer. Trügerische Erinnerungen. Bei dem Song „I Don’t Like Mondays“ dachte die Studentin aber definitiv lange Jahre sehr egozentrisch: Damit kann ich, ich, ich mich identifizieren!

Bob Geldofs Song aber erinnert an eine wirklich traurige Geschichte. Am Montag, den 29. Januar 1979, feuerte die 16-jährige Brenda aus einem Fenster tödliche Schüsse auf die Grover Cleveland Elementary School in San Diego ab, ihre Begründung: „I don’t like mondays.“ Es gibt ein Radioformat, das die Entstehungsgeschichte legendärer Songs erzählt, es gemahnt öfter an die adoleszente Ignoranz in diesen alten Zeiten. Katharina Graf

O

Optimierung In Zeiten allgegenwärtiger Optimierungsratschläge gibt es selbst für die Siesta einen Leitfaden. „Mittagsschlaf ja, aber richtig“, habe ich neulich gelesen. Es ging dabei darum, ihn nicht länger als für eine halbe Stunde über sich kommen zu lassen, da sich sonst eine den Kreislauf belastende Tiefschlafphase einstelle. Auch sei die „Gipferl-Stellung“ zu vermeiden und das Liegen auf dem Rücken vorzuziehen; wohl wegen irgendwelcher Durchblutungsthemen (Innere Abwesenheit).

Warum nicht auch in der Krankheit die eigenen Potenziale ausschöpfen? Die Luft nach oben bei körperlicher und seelischer Dysfunktion ausfüllen? Warum es bei einer Grippe belassen, wenn eine Lungenentzündung „reachable“ ist? Warum sich mit gelegentlichen Rückenschmerzen zufriedengeben, wo ein chronisches Schmerzleiden ein Markstein ist? Was spricht gegen eine vollwertige Essstörung anstelle alberner Intoleranzen? Die beste Rezeptur für den Weg in die Krankheit lautet: einfach weitermachen wie bisher. Sich ganz der Beschleunigung, Reizüberflutung, allgemeinen Verwertungshysterie übergeben. Und vor allem: sich ganz der permanenten Beobachtung hingeben. So kann jede beliebige Krankheit bis zur Nahtoderfahrung „developed“ werden. Marc Ottiker

S

Struktur Er habe da etwas entdeckt, das heiße „Leben“. Und das sei gut, sagte Tim Raue in einem Interview. Nach Jahren ohne Erholung lernte er, dass es neben der Arbeit noch etwas anderes gebe. Für die meisten Menschen dient Arbeit dem Lebensunterhalt, mehr nicht. Umso wichtiger wird der kleine, immer kleiner werdende Rest dessen, was wir „Freizeit“ nennen: die Zeit der Selbstverwirklichung.Denn im Kapitalismus gilt nur der etwas, der leistet.

Vielleicht sind Krankmeldungen teils Notwehr gegen das System der nimmersatten Forderungen des Weiter-weiter-Imperativs. Vor einem Einkaufserlebnispalast (= Supermarkt mit Begeisterungselementen) sitzen die hinlänglich Gescheiterten. „Du trinkst mein Bier!“, schreit eine. Der andere kontert: „Dein Bier steht im Supermarkt!“ Die Menschen an der nahe liegenden Haltestelle taxieren die Gruppe verächtlich. Doch was wäre, wenn genau diese gescheiterten Menschen der korrekte Seismograf unserer Gesellschaft wären? Und wir folglich nur die Batteriehasen dieses Systems (Optimierung)? Vielleicht ist ja „Burnout“ das Signet eines korrekt empfindenden Menschen? Jan C. Behmann

W

Wortbedeutung Das hinlänglich bekannte Wort „blaumachen“ wird unterschiedlich erklärt. Manche bringen den Begriff in einen Zusammenhang mit dem Kirchenjahr und liturgischen Farben. Die gängigste Erklärung hängt aber mit dem Färbereiwesen vergangener Jahrhunderte und einer höchst biologisch-alkoholischen Technologie zusammen. Nur aus einer Pflanze namens Färberwaid wurde bis zum Ende des 16. Jahrhunderts Indigo gewonnen, mit dem Stoffe billig blau gefärbt werden konnten. Die Pigmente aus der Pflanze waren nicht wasserlöslich, sondern reagierten nur mit einer Brühe aus Urin und Alkohol. Darin schwamm der Stoff, und die Färber tranken Bier und Schnaps und pinkelten dann arbeitsam und ordentlich in den Färbebottich.

Auch Urin, der vor Kneipen abgeschlagen wurde, kam zum Einsatz. 48 Stunden brauchte es für den Prozess. Am Samstag wurde eingelegt, am Sonntag blieb das Färbegut im Bottich und wurde weiter mit Urin und Alkohol versetzt. Das muss höllisch gestunken haben. Und am schönen Montag dann wurde der Stoff herausgenommen und nahm – während er die Luft verpestete – beim Trocknen die blaue Farbe an. Das dauerte den ganzen Tag. Die Färber lagen erschöpft vom Saufen im Grase (Innere Abwesenheit). Die schwere Arbeit des Blaumachens hatte sie hingestreckt. Magda Geisler

Y

Yves Mit 18 Jahren lag ein Junge am Strand und erklärte den Himmel zu seinem Kunstwerk. Sein erstes „Monochrom“. Der Junge wurde zum frühen Konzeptkünstler Yves Klein (1928 – 1962). Monochrom blieben seine Werke. Über 194 Leinwände strich er in leuchtendem Ultramarin, in dem jedes noch so geschulte Auge versinkt. „Zuerst gibt es ein Nichts, dann ein tiefes Nichts und schließlich eine blaue Tiefe.“ Lange hatte er experimentiert, ehe er einen Fixierstoff fand, an dem das Pigment haftet und zugleich seine Leuchtkraft behält. 1960 ließ er den Ton als „International Klein Blue“ patentieren (Freischaffend). Heute gehört seine blaue Leinwand dem Museum Ludwig.

Erst in diesem Frühjahr hat ein französischer Farbenhersteller gemeinsam mit dem Archiv des Künstlers die Farbe „Yves Klein“ auf den Markt gebracht. Seit die deutsche Parteienlandschaft sich nicht nur mit diversen Blautönen schmückt, sondern sie gar zum Parteinamen erhoben hat, möchte man das Hashtag #yveskleinhättedasnichtgewollt durch die sozialen Netzwerke schicken. Sarah Alberti

Z

Zu Wer abends blau ist wie eine Haubitze, kommt am nächsten Tag oft ordentlich verkatert zur Arbeit (Innere Abwesenheit). Oder gar nicht. Dabei ist es ein schmaler Grat zwischen gelegentlichem Blaumachen und echtem Suchtproblem.

Nach dem Fehlzeitenreport des Wissenschaftlichen Instituts der AOK kam es im Jahr 2012 zu 2,42 Millionen Fehltagen, die durch die Einnahme von Suchtmitteln verursacht wurden. Eingerechnet sind hier allerdings nicht nur Fehlzeiten, die durch akuten Alkoholeinfluss entstehen, sondern auch Folgeerkrankungen von Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch. Ein hoher wirtschaftlicher Schaden also, der durch Suchtmittelmissbrauch entsteht. Das sollte aber bei Weitem nicht der einzige Grund dafür sein, es ab und zu ruhiger angehen zu lassen. Mladen Gladić

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