Böses Erwachen und Aufbruch

Sierra Leone Das Land hat die Ebola-Pandemie besiegt und geht heute eine der Folgen an: die stark gestiegene Zahl von Vergewaltigungen
Ausgabe 17/2020

Der kleine Raum ist schwach beleuchtet, Tageslicht dringt nur durch einen Spalt unter dem heruntergelassenen Rollladen. Ein blauer Vorhang schirmt ein Untersuchungsbett ab, wie es sonst in Arztpraxen steht. An einem Holztisch daneben sitzt die 15-jährige Heela Kamara* und denkt an die vergangenen 24 Stunden. Alles ging so schnell: Sie hatte ihrer Großmutter gebeichtet, schwanger zu sein, ein junger Mann aus ihrem Dorf habe sie vergewaltigt. Die bestürzte Großmutter brachte ihre Enkelin auf dem schnellsten Wege zur Polizeistation in Bo, der nächstgelegenen Stadt. Von dort schickte man sie hierher, ins Rainbo-Zentrum, eine Beratungsstelle für Menschen, die sexualisierte Gewalt erleben mussten. Neben Kamara nimmt eine junge Frau Platz – sie trägt ein elegantes Kleid mit blauem Blumenmuster und eine Brille, deren Rahmen rundum mit Strasssteinchen besetzt ist. Die Frau, die sich als Neneh Conteh vorstellt, sei stets freundlich gewesen, erzählt Kamara drei Tage später, als wir im selben Raum sitzen.

In so gut wie jedem Dorf dieses Landes gibt es Mädchen, die eine ähnliche Geschichte erzählen können. Doch die Frage, was einerseits Vergewaltigungen und andererseits Teenagerschwangerschaften bedeuten, stelle sich seit Ende der Ebola-Krise mit besonderer Schärfe. Vor knapp vier Jahren erklärte das Land an der westafrikanischen Küste, nicht länger von der schweren Krankheit heimgesucht zu sein, das tödliche Virus sei besiegt. Doch hatte die Krise Spuren hinterlassen. So schien die Zahl der Teenagerschwangerschaften stark gestiegen zu sein, laut einer UN-Erhebung in manchen Regionen um bis zu 65 Prozent. Einer der Hauptgründe dafür war die neunmonatige Schließung der Schulen. Damit fehlte ein wichtiger sozialer Rückhalt für einen großen Teil der weiblichen Teenager. Dort konnten sie Unterstützung finden, von Mitschülern wie von Lehrern, dort bekamen sie Essen, manchmal sogar Verhütungsmittel. All das entfiel während der Ebola-Krise. Es kam hinzu, dass Mädchen nun sehr viel mehr im Haushalt mithelfen mussten, zum Markt gingen oder Wasser holten. Sie hätten sehr viel mehr Hilfe gebraucht als in normalen Zeiten, zugleich aber kaum Geld besessen, erzählt Chernor Bah, Leiter der sierraleonischen Hilfsorganisation Purposeful. Oft seien sie deshalb auf andere angewiesen gewesen. „Und im Tausch dafür verlangten Männer ihre Körper. Gerade in Krisenzeiten ist der weibliche Körper eine Ware“, so Bah. Unter dem Eindruck sich häufender Vergewaltigungen forderten immer mehr Organisationen, dass Sexualstraftaten energischer verfolgt werden müssten und man sich für mehr Gleichberechtigung einsetzen müsse. „All diese Probleme gab es natürlich schon vorher, aber ohne Ebola würden wir dieses Gespräch heute nicht führen“, ist Bah überzeugt. Die Gesundheitskrise habe die Ungleichheit ins Rampenlicht gerückt.

So viele Anzeigen wie nie

Bestärkt durch die weltweite #MeToo-Bewegung und vorangetrieben von der First Lady Fatima Maada Bio, die das Thema zur Chefsache erklärt hatte, rief Präsident Julius Maada Bio im März 2019 schließlich den nationalen Notstand aus. Das geschah nicht wegen innerer Unruhen oder einer erneuten Gesundheitskrise, sondern um für die vielen Vergewaltigungen zu sensibilisieren. Seither säumen Plakate die Hauptverkehrsadern Sierra Leones, auf denen die First Lady neben dem Slogan „Hands off our girls“ zu sehen ist. Dank der Kampagne zeigen zusehends mehr Frauen an, dass sie missbraucht worden sind. Schon 2018 hatte es gut 8.500 Anzeigen gegeben, inzwischen hat sich die Zahl fast verdoppelt. Die Polizei überweist die Betroffenen zumeist an die Rainbo-Zentren, die über das ganze Land verteilt sind und professionelle Beratung sowie Beistand garantieren.

Zurück zu Kamara. Alles hatte damit begonnen, dass Patrick*, ein junger Mann aus ihrem Dorf, sie eines Abends zu sich einlud. „Ich dachte mir nichts dabei. Aber dann hat er seine Tür geschlossen und klargemacht, er werde mich erst gehen lassen, wenn wir Sex gehabt hätten“, erzählt Kamara. Dann redet sie nicht weiter.

„Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das alles“, hört Kamara die Beraterin des Rainbo-Zentrums sagen. Natürlich macht sie sich Sorgen. Als die Mutter an Ebola verstorben war, hatte ihr Vater wieder geheiratet, dadurch lebte Kamara bei ihrer Großmutter, die kaum genug Geld hatte, um sich und die Enkelin über die Runden zu bringen. Und dann auch noch ein Baby? Das schien schwierig.

Als in ihrem Dorf Menschen an Ebola erkrankten, träumte Kamara davon, Krankenschwester zu werden. Wo sie zu Hause war, gab es keine angemessene medizinische Versorgung. Sie wollte das ändern. Dazu musste sie in die Schule gehen, so viel war klar. „Hätte ich mich um ein Kind kümmern müssen, wäre das kaum möglich gewesen.“

Deshalb war die Nervosität groß, als ihre Periode Monat für Monat ausblieb. Nur ihre besten Freundin zog sie ins Vertrauen und sagte ihr, dass sie mit dem Gedanken spiele, das Kind abzutreiben. Ihre Freundin habe sie damals erschrocken angesehen, erinnert sich Kamara. Abtreibungen würden oft tödlich enden, da sie illegal seien und daher nur heimlich von ungeschulten Heilern vorgenommen würden. Kamara entschied sich letztlich, das Baby zu bekommen. Vielleicht muss ich nun Schneiderin werden, um Geld zu verdienen, dachte sie.

Ähnlich geht es vielen Mädchen in Sierra Leone. Wer schwanger wird, muss sich zumeist damit abfinden, dass ein eingeschlagener Bildungsweg jäh endet. Nur knapp 18 Prozent derer, die eine Grundschule besuchen, hätten in den vergangenen Jahren auch die Sekundarstufe abgeschlossen, so die Helfer von Purposeful, deren Organisation 2016 gegründet worden ist, um weibliche Teenager in allen Lebenslagen zu unterstützen. Anstoß dazu habe die Ebola-Epidemie gegeben, so Chernor Bah. Was seinerzeit an Problemen zutage getreten sei, dürfte sich jetzt wiederholen, wenn Sierra Leone mit einer wachsenden Zahl von Corona-Infektionen zu kämpfen habe, fügt er hinzu.

Mindeststrafe zehn Jahre

Tatsächlich sind die Schulen bereits seit Ende März geschlossen, der weitere Verlauf der Krise ist ungewiss. Um gegenzusteuern, hat Purposeful damit begonnen, Geld an 900 Mentoren im ganzen Land zu überweisen, die Teil eines Bildungsprogramms der Organisation sind. Damit unterstützt werden sollen gut 15.000 Mädchen, vorzugsweise in den ländlichen Regionen. Ihnen Geld zu geben, das soll sie davor schützen, in Abhängigkeitsverhältnisse zu geraten. „Bei den meisten bisherigen Krisen wurde an junge Frauen ganz zuletzt oder gar nicht gedacht“, meint Bah. Das passiere jetzt wieder, daran hätten auch der im Vorjahr ausgerufene Notstand und die nun strengere Gesetzgebung nichts geändert.

Daher setzen Aktivisten ihre Arbeit fort und protestieren weiter für mehr Gleichberechtigung. Eine, die sich dabei besonders exponiert und an Einfluss gewinnt, ist die Rundfunkjournalistin Asmaa James. Sie startete im Dezember 2018 den Black-Tuesday-Protest. Das bedeutet, an jedem letzten Dienstag im Monat legen die Teilnehmer schwarze Kleidung an, damit der Kampf für Frauenrechte nicht vergessen wird.

Es brauche eben Zeit, ein wirkliches Umdenken in der Gesellschaft zu erreichen, sagt Asmaa James, als wir sie in ihrem Büro beim Sender Radio Democracy besuchen, einem der am meisten gehörten Sender in der Hauptstadt Sierra Leones, Freetown. Den vielen Frauen, die seit Ausrufung des Notstands Missbrauchsfälle gemeldet haben, soll damit weiterhin ein Forum gegeben werden.

Aus diesem Grund hat die britische BBC die Journalistin 2019 zu einer der hundert einflussreichsten Frauen des Jahres erklärt. „Ich denke, andere Länder können da etwas von uns lernen. Das Gesetz gegen Vergewaltigungen, das vor sechs Monaten verabschiedet wurde, ist ein sehr striktes. Es wäre schön, wenn andere Regierungen dies ebenso ernst nehmen würden“, hofft Asmaa James.

„Say no to Child Marriage“ ist auf zwei Sticker gedruckt, die an ihrer Tür kleben. Auf einem großen Whiteboard sind die nächsten Pläne für ihre Kampagne skizziert. Asmaa James will genau verfolgen, wo wie viele Missbrauchsfälle angezeigt werden und wie die Gerichte mit dem neuen Gesetz umgehen. Nach den veränderten Regelungen haben Menschen, denen sexualisierte Gewalt widerfahren ist, einen Anspruch auf kostenlose Beratung und gesundheitliche Betreuung. Die Gerichte müssen die Fälle mit Vorrang abarbeiten. Keine jahrelange Prozessdauer mehr, verlangt das Gesetz. Auch erhöht es die Mindeststrafe für die Täter auf zehn Jahre Gefängnis.

Doch hat diese Rechtsprechung auch ihre Kehrseite: Wenn junge Väter Angst haben, vor Gericht gebracht zu werden und damit lange Haftstrafen zu riskieren, ist der Anreiz groß, einfach davonzulaufen. Auch auf Patrick, Kamaras Freund, traf das zu. Sobald das Gerücht im Dorf kursierte, sie sei schwanger, habe er einfach das Weite gesucht, erzählt sie. Sie hoffe, dass er sich nicht mehr blicken lasse. Sie sagt das mit ernstem Gesichtsausdruck, nicht zornig, aber bestimmt. Sie streift ihr rotes Kleid zurecht. Seit sie vor drei Tagen ins Rainbo-Zentrum gebracht wurde, ist sie in einer Notunterkunft des angrenzenden Krankenhauses untergebracht. Gemeinsam mit 14 Mädchen, die Ähnliches durchmachen, wartet sie an diesem Ort auf den Gerichtstermin, der innerhalb der kommenden Wochen stattfinden soll. Danach wird sie wieder zu ihrer Großmutter ziehen, will aber regelmäßig zu Beratungsgesprächen ins Rainbo-Zentrum zurückkehren.

Dass es Strukturen wie diese in Sierra Leone gibt, ist eine Errungenschaft jener Bewegungen, von denen die Zeit nach der Ebola-Krise genutzt wurde, um einen sierraleonischen #MeToo-Moment auszulösen. Doch der Weg sei noch lang, glaubt Asmaa James: „Wir müssen jetzt aufpassen, dass die wegen Corona geschlossenen Schulen nicht wieder das Aus für die Bildung vieler Mädchen bedeuten.“ Die Arbeit für mehr Gleichberechtigung im Land hat mit der Ebola-Krise begonnen. Jetzt, während der Corona-Pandemie, sollen die Anstrengungen weiter hochgefahren werden.

* Namen geändert

Info

Die Recherchen für diesen Artikel hat das European Journalism Centre mit dem Global Health Grant for Germany ermöglicht

Saidu Bah ist Journalist in Sierra Leone und schreibt für lokale Medien.

Laurence Ivil arbeitet als multimedialer Producer. Er lebt in Berlin.

Alicia Prager schreibt vor allem zu den Themen Klima, Wirtschaft und Gesundheit.

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