Busse ins Morgen

Zukunft Massendemonstrationen, ein radikales Sofortprogramm und das Ende persönlicher Konflikte: So wird es was mit einer linken Sammlungsbewegung
Ausgabe 03/2018
Seltene Beisammensein am Zentralfriedhof Friedrichsfelde
Seltene Beisammensein am Zentralfriedhof Friedrichsfelde

Foto: Imago

Wo sonntagmorgens um zehn Uhr Menschen Bratwurst essen, der Stand der Ökologischen Plattform in der Linkspartei neben dem der Kommunistischen aufgebaut ist, wo allenthalben rote Nelken und Gerbera leuchten, dort findet sich ein seltenes Bild: Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch, Bernd Riexinger, Katja Kipping – ganz dicht beieinander, innehaltend, vor ihnen der Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin, die Gedenkstätte der Sozialisten, der Gedenkstein für Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und all die anderen Ermordeten und Gestorbenen. „Die Toten mahnen uns“, steht auf dem Gedenkstein. Später, beim Politischen Jahresauftakt der Linkspartei, wird Oskar Lafontaine rufen: „Alle Linken in Deutschland müssen sich zusammenfinden, um die Rechten kleinzuhalten. Wir dürfen die Fehler der Geschichte nicht mehr wiederholen.“

Am Vormittag in Friedrichsfelde ist das Zuammensein bald wieder vorbei. Nach der Runde um die Gedenksteine für unter anderem Rudolf Breitscheid und John Schehr steuert das Gros um Gregor Gysi, Kipping und Bartsch nach halb rechts, zum Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus, halb links zurück bleiben Wagenknecht und Lafontaine – und mit ihnen die Fotografen, Fernsehkameras, Mikrofone. Den Weg zum Parkplatz unterbrechen die beiden immer wieder: für Interviews und weil andere Gedenkende sie anhalten, ihnen auf die Schultern klopfen, von einer „schwierigen Situation“ reden, „viel Erfolg“ wünschen. Schließlich ziehen sie an den Bratwurstständen vorbei, zwei Männer Mitte 30 stehen dort und blicken ihnen nach, der eine sagt: „Die riskieren die Spaltung der Partei und sind immer noch Mitglieder, das ist doch unglaublich!“ Katja Kipping wird im Internet ein Bild hochladen, das Partei- und Fraktionsspitze vereint zur Gedenkstätte ziehen zeigt, auf dem Sahra Wagenknecht aber fehlt.

So ist die mehrheitliche mediale Lesart der Wagenknecht- und Lafontaine-Aufrufe zu einer linken Sammlungsbewegung schnell bei der Hand: Diese seien doch nur die Vergrößerung des innerparteilichen Konflikts der Linkspartei, von „Spaltung“ ist die Rede. Sahra Wagenknecht sagt beim Jahresauftakt: „Wer den Unterschied zwischen einer Sammlung und einer Spaltung nicht erkennen kann, hat doch irgendwie gar nichts verstanden.“ Und weiter: dass eine Bewegung natürlich nicht von oben, auf Knopfdruck oder „weil irgendjemand ein Interview gibt“ entstehe. Aber dass die Linke doch sagen müsse, wofür sie stehe. „Wir wollen doch nicht zuschauen, wie die Höckes und Gaulands im Schlepptau der neoliberalen Politik immer stärker werden und gerade die Verlierer dieser Politik, die am meisten Benachteiligten“, in immer größerer Zahl die AfD wählen.

Eine Leerstelle namens SPD

Natürlich ist die Idee einer neuen linken Sammlungsbewegung richtig – weil sich die SPD als unreformierbar erweist. Noch hoffen wir ja, dass sich die von Juso-Chef Kevin Kühnert angeführten Gegner einer erneuten Koalition mit der Union durchsetzen gegen die, die die SPD nur mehr als linken Flügel der Unionsparteien verstehen. Doch diese Hoffnung steht auf schwachen Füßen. Ist es denn vorstellbar, eine solche gewaltige Leerstelle zu füllen, wie die SPD sie hinterlässt?

Hilft historische Erfahrung weiter? Was Wagenknecht und Lafontaine fordern, läuft darauf hinaus, in Deutschland eine neue Bewegung wie 1918 oder 1968 ins Leben zu rufen. Diese historischen Bewegungen haben nicht einmal das Parteiensystem verändert, denn keine von ihnen konnte die Dominanz der SPD brechen und das auf sie zugeschnittene Links-rechts-Schema des ganzen Parlaments tangieren – und doch waren es große Schritte, von denen wir heute nur träumen können. Wenn man urteilt, ein Niveau wie damals müsste diese neue Bewegung mindestens haben, was ist damit gesagt? Vor allem, dass es auch im Internetzeitalter nicht falsch geworden ist, sich auf der Straße zu zeigen. Neue Gründungen von oben wie Yanis Varoufakis’ DiEM25 haben wir eh schon, auch die neue Programmfindungskommission gibt es längst in Form des rot-rot-grünen Instituts Solidarische Moderne. Was heute nottut, sind neue Massendemonstrationen. Wenn Lafontaines Idee einen gesellschaftlichen Willen trifft, muss es möglich sein, sie zu organisieren.

Solche Demonstrationen brauchen eine Infrastruktur, zum Beispiel Busse, das müssten Kräfte aus den Gewerkschaften und allen linken Parteien organisieren. Ferner müssten bekannte Personen aus allen linken Lagern auftreten, die sich auf ein radikales Sofortprogramm als Demonstrationsaufruf einigen. Ein wirklich konsequenter ökologischer Umbau würde dazugehören, am besten an ein oder zwei zentralen Einzelfragen wie der sofortigen Abschaltung der Kohlekraftwerke und dem sofortigen Ende der Dieselmotoren veranschaulicht. Das wäre der wichtigere Teil unserer linken Sozialpolitik, die nämlich den Kindern und Kindeskindern zu gelten hat. Aber wir brauchen auch eine für die Erwachsenen von heute: Wer seinen Arbeitsplatz verliert, darf nicht mit Hartz IV abgespeist werden; wir brauchen ein Grundeinkommen von mindestens 1080 Euro, wie wir einen Mindestlohn von mindestens zwölf Euro brauchen. Zur Finanzierung wäre eine Steuerpolitik vonnöten, wie Thomas Piketty sie umrissen und gefordert hat – die Reichen würden drastisch zur Kasse gebeten. „Links muss immer die Eigentumsfrage stellen“, hat Oskar Lafontaine am Sonntag gerufen. „Wir kriegen die Machtstrukturen dieser Gesellschaft nicht aufgebrochen, wenn wir nicht eine andere Verteilung des Vermögens durchsetzen.“

Am Sonntagmittag, bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration, schickt sich ein Teenager an, in die rhetorischen Fußstapfen Lafontaines zu treten: „Hören wir auf, uns selbst zu zerfleischen!“, schallt es laut und klar und fröhlich vom Rebell-Lautsprecherwagen der Jugendorganisation der Marxistisch-Leninistischen Partei. „Stehen wir zusammen, wo wir uns einig sind, diskutieren wir es aus, wo wir es nicht sind!“

Dieses Bündnis, das hier am Bahnhof Frankfurter Allee an zwei in Schlafsäcke gehüllten Obdachlosen vorbeizieht, ist keine Massendemonstration und keine neue linke Bewegung, sondern es sind die alljährlich für Karl und Rosa auf die Straße gehenden linken Organisationen, Parteien und autonomen Gruppen, 10.000 bis 12.000 Menschen, in deren Mitte sich das ein oder andere Stalin- und Mao-Bild erspähen lässt. Was aber auffällt: dass sie sich hier nicht lange mit Haupt- und Nebenwiderspruch, mit angeblichen neuen Konfliktlinien aufhalten. „Ich will, dass unser ‚Hoch die internationale Solidarität!‘ bis an die Ohren der Banker in Frankfurt dringt!“, ruft der Rebell-Teenager, und am Lautsprecherwagen hängen Banner, wie es viele gibt in den Reihen dieser gern der Altbackenheit geziehenen Demonstration: „Für die Befreiung der Frauen! Protest ist links, stoppt Abschiebungen, Refugees welcome! Gegen Sexismus, Rassismus und Kapitalismus“.

Im öffentlich-medialen Diskurs dagegen spielt sich jene neue Konfliktlinie, die Parteien und Gesellschaft spalte, in den Vordergrund: global gegen national, kulturell gegen sozial. Nur zwei kleinere Parteien, die Grünen und die AfD, lassen sich vollständig einem der Pole zuordnen, während Union und SPD, die bisherigen Volksparteien und Träger des noch vorhandenen Parteiensystems, durch sie eher gespalten würden. Dass sich diese Dichotomie auch und in der öffentlichen Debatte vor allem auf die Linkspartei erstreckt, lässt heute viele an der Lebenstauglichkeit von Wagenknechts und Lafontaines richtiger Idee von einer neuen Bewegung zweifeln. Wie der alte Hegel gesagt hätte: Erst wenn alle Bedingungen einer Sache gegeben sind, tritt sie in die Existenz.

Dabei sollte doch eigentlich klar sein, dass eine weltoffene Immigrationspolitik von einer Besserstellung ökonomisch benachteiligter Deutscher flankiert sein muss. Dass man diese Politik in beiden Richtungen lesen können muss: Einerseits kann man von allen, die den Flüchtlingen ihr „Willkommen“ bieten, verlangen, dass sie auch schlechtergestellten Einheimischen helfen. Nicht zuletzt deshalb ist es so wichtig, Hartz IV rückgängig zu machen. Andererseits kann man von allen schlechtergestellten Einheimischen verlangen, dass sie nicht nur für ihre eigene Besserstellung eintreten, sondern damit auch für die Unterstützung von Asylsuchenden. Das sind Kehrseiten, die sich nicht trennen lassen – von links her jedenfalls nicht.

Das Jetzt ist nicht zu ertragen

Es fragt sich, ob die persönlichen Rivalitäten in der Linkspartei, zuvorderst die zwischen Kipping und Wagenknecht, es überhaupt noch erlauben, eine „Partei in Bewegung“ (Kipping) beziehungsweise eine „starke linke Volkspartei“ (Wagenknecht) einladend zu gestalten für linke Sozialdemokraten, Grüne und Gewerkschafter, für Menschen aus außerparlamentarischen sozialen Bewegungen und zugleich für jemanden, den Globalisierung und Migration ängstigen. Es haben ja beide recht: Kipping, die schreibt: „Partei in Bewegung heißt auch, dass wir dort stehen, wo die Leute sind. Bei den Siemens-Protesten, bei Ende-Gelände für den Kohleausstieg, beim Kampf um mehr Personal in der Pflege oder wenn Ärztinnen das Recht auf Schwangerschaftsberatung verteidigen.“ Und Wagenknecht, die sagt, dass die Linke zwar viele neue Wähler und Mitglieder gewonnen habe, mit der Situation heute aber nicht zufrieden sein könne und mehr, einen neuen linken Aufbruch wollen müsse.

Zwar meinen viele dieser Tage, dass für einen solchen Aufbruch zuerst jene Konfliktline national-global ausgefochten und entschieden werden müsse. Aber beweist nicht gerade Labour unter Jeremy Corbyn, dass sich sehr wohl beide Milieus binden lassen, Arbeiter und Kosmopoliten, Arbeitslose und Akademiker? Ist Teil dieses Erfolgs nicht auch, dass sich Labour eben nicht als knallharte Anti-Brexit-Partei aufstellt, sondern sich an einer Position versucht, die beiden Polen vermittelbar ist? Ist nicht die Demokratisierung und die Öffnung der Partei und deren Vorsitzendenwahl für Nicht-Mitglieder viel entscheidender für den heutigen Zuspruch als angeblich unvereinbare inhaltliche Konfliktlinien? Wäre nicht ein solcher radikaler Schritt für die Linkspartei ein erster hin zur Lösung von Konflikten wie dem zwischen Partei und Fraktion?

Es gehört zur historischen Erfahrung, auf die wir zurückgreifen können, dass die früheren großen Sammlungsbewegungen – der Aufbruch der Kommunisten, später der „68er“– sich gegen den Kapitalismus als solchen gewandt haben – und zwar auf der Folie, dass er sich selbst in Kriegen wie in Vietnam ad absurdum geführt hat. Auch heute hat sich der Kapitalismus in eine Situation gebracht, die ihn unerträglich werden lässt. Die Krise seit 2008, die immer groteskere Ungleichheit beweisen es. Es muss gelingen, den Kapitalismus zu stoppen, bevor er noch mehr Kriege hervorruft. Eine neue linke Sammlungsbewegung wäre ein guter Anfang. Aber sind wir schon so weit, dass sich wichtige Kräfte aus allen linken Parteien auch nur auf ein radikales Sofortprogramm verständigen können?

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