„Ich lese auch selbst nicht so gerne, was irgendjemand in dritter Generation recherchiert und gar nicht erlebt hat“
Abbildung aus dem besprochenen Band „Genossin Kuckuck“
Anke Feuchtenberger gilt mit ihrem so surrealen wie einfallsreichen Stil als die wichtigste Comiczeichnerin Deutschlands – und legt jetzt mit Genossin Kuckuck ihr fast 500 Seiten starkes Opus magnum über ein Aufwachsen in der DDR vor, an dem sie 13 Jahre gearbeitet hat.
der Freitag: Frau Feuchtenberger, woher kommt Ihre Faszination für sprechende Schnecken, Wölfe in Frauenkleidung, Riesenpilze, Schleim und Plasma?
Anke Feuchtenberger: Meine Vorfahren waren Förster und Jäger und alle sehr stark mit dem Wald verbunden. Die ganze Welt der organischen Natur hat mich ab frühester Kindheit sehr beschäftigt, es hatte etwas unglaublich Tröstliches und war oft wie ein Wiedererkennen. Als Kind ist man grundsätzlich erst einmal sehr akzeptierend, da gi
ie ein Wiedererkennen. Als Kind ist man grundsätzlich erst einmal sehr akzeptierend, da gibt es keinen Schmutz, keinen Ekel, es gibt einfach Interesse. Ich glaube, das habe ich mir bewahrt. Als Erwachsene hatte ich eine Sehnsucht, mit diesen Dingen wieder konfrontiert zu sein, weil ich das Gefühl habe, all das sind wir auch. Wir sind zutiefst auch Schnecke oder Schleim oder Plasma. Sich dem zu widmen, ist eine Art Lebensguide, denn dann lernt man, wer man ist und dass man demütig sein muss. Alles andere nützt ja nichts.In Ihrem Opus magnum geht es um Kerstin und Effi, die zu DDR-Zeiten auf dem Land aufwachsen. Inwieweit sind Sie als 1960 in Ost-Berlin Geborene ländlich verwurzelt?Ich bin zur Hälfte in Berlin, zur Hälfte auf dem Land aufgewachsen und habe beide Erfahrungen sehr intensiv wahrgenommen. Ich wohne mittlerweile wieder in der Gegend meiner Kindheit, in einem Dorf in Vorpommern. Als Erwachsene habe ich auch in Hamburg und in Ostfriesland gewohnt, aber ich bin dort nie richtig angekommen. Für mich ist das wichtig als ganz spezifische Thematik des Heims …… um die es in Ihrem 480 Seiten langen Comic auf verschiedenen Ebenen geht.Genau, einerseits als Zuhause, als gemeinsames Aufwachsen, das verbindet. Im Comic kommt ja immer wieder „die höhere Gesellschaftsordnung“ vor, die uns Kindern gepredigt wurde. Da war ein ganz tiefer Glauben daran, der fast etwas Religiöses hatte: Wir kommen von der tieferen Gesellschaftsordnung, dem Kapitalismus, und schreiten voran in die höhere, den Sozialismus. Ich habe das in meinem Buch auch als etwas Heiteres thematisiert, wenn ich vom „heiligen Juri“ spreche oder „unserem guten Herrn W. I. Lenin“. Andererseits steht das „Heim“ für mich für alle kollektiven Aufbewahrungssysteme, besonders in der DDR: Wochenkrippe, Tageskrippe von Babys und Kindern bis hin zu den Alten. Der Begriff geht also über die gewöhnliche Verwendung hinaus. Ein sehr spezielles deutsches Wort, finde ich.Das Heim ist in Ihrem Buch allerdings auch das Zuhause von Gewalt und von dunklen Geheimnissen, und es kommt auch als Ort der Wegweisung und Bestrafung für Kinder vor, die „ins Heim“ geschickt werden. War dieser „Angstort“ in Ihrer Jugend auch präsent?Ja, als stehende Drohung und definitiv nicht als nette Aussicht für die Zukunft. Ich kannte viele Beispiele. Ich hätte diesen Comic auch niemals machen können, wenn ich mir alles angelesen oder nur recherchiert hätte. Man spricht ja viel von der transgenerationellen Vererbung von Erfahrungen oder sogar Traumata, also von Dingen, die sich übertragen und die ich nicht erzählen würde, wenn sie nichts mit mir zu tun hätten. Ich finde, ich hätte auch kein Recht dazu. Irgendwelche in dritter Generation recherchierten Dinge, die die Person gar nicht erlebt hat, lese ich selbst nicht so gerne.Ihre Werke sind opak im doppelten Sinne, sie sind von schwarzen Farben und dunklen Stimmungen durchzogen, aber sie sind auch semantisch schwer zu durchdringen, sie haben keine klassische Erzählstruktur, Tiere und Dinge können sprechen … Lieben Sie es, Ihre Leser*innen herauszufordern?Von der Zeichenweise her ist es eigentlich eine Arbeit mit der Transparenz, von der Schwärze in die Helligkeit oder umgekehrt von der Helligkeit in die Schwärze. Wenn man das digital machen würde, müsste man verschiedene Layers einbauen. Ich mache es mit der Hand, wische viel weg und hole es wieder raus. Natürlich ist das Universum ein dunkler Ort, aber es als„opak“ zu bezeichnen, wäre für mich so etwas wie ein Rauswurf. Ich habe hingegen die Hoffnung, dass die verschiedenen Ebenen sich in der Tiefe des Raums wieder miteinander verbinden. Ich will die Leser:innen nicht irgendwohin locken, aber ich brauche das Gefühl, dass sich in der Tiefe die Dinge wieder zusammenfügen, bis hin zur kleinsten Schnecke.Sie haben vor ein paar Jahren Texte von Brigitte Reimann illustriert. Reimanns kritisch-utopischer Sozialismus ist Ihnen durchaus nah, oder?Ja, als ich den Auftrag bekam, für das Buch In der Erinnerung sieht alles anders aus Aphorismen von Reimann zu bebildern, war ich unglaublich glücklich, dass ich mich ihr noch mal widmen durfte. Denn als ich 15 war, hat meine Mutter Franziska Linkerhand gelesen und mir das Buch dann gegeben. Ich habe es verschlungen und gleich mehrmals gelesen, ich war komplett in dieser Figur zu Hause. Beim Wiederlesen für die Ausstellung habe ich mich gewundert, wie sehr jedes Wort davon noch in mir drin ist! Ich erinnerte alles, ich erinnerte jedes Wort.Nach dem Mauerfall haben Sie sich politisch und feministisch engagiert. Wie kam es dazu?Schon vor dem Mauerfall hatte ich mich mit Freundinnen politisch betätigt, damals illegal noch. Da ging es vor allem um das Aufziehen von Kindern, was in meinem Buch jetzt wieder eine Rolle spielt. Als ich 1989 selbst ein Kind bekam, dachte ich mir, ich kann mir das nicht vorstellen, dass mein Kind diese ganze Mühle noch mal durchläuft. Die Idee, dass man da vielleicht noch etwas tun könnte, war so hoffnungsvoll! Und als die Mauer dann fiel, ging das komplett im Konsum auf – und ich war entsetzt. Für mich war das keine Revolution, die Mauer war auf und die Revolution war geköpft. Das war schwierig für mich auszuhalten. Als dann die großen Wahlplakate der westlichen Parteien überall hingen, auch in Ost-Berlin, konnte ich mir nicht vorstellen, dass das die Zukunft sein sollte. Egal, wie es mit dem Feminismus in der DDR stand, das war wie ein riesiger Rückschritt. Auch noch zehn Jahre später, als ich nach Hamburg kam, hatte ich immer noch das Gefühl, was ist das denn hier? Ich hatte überhaupt keine Netzwerke mehr, die Frauen waren alle zu Hause mit ihren Kindern, und ich war da wie ein fremder Vogel mit meiner Freiberuflichkeit und dem Dasein als alleinerziehende Mutter. Ich bin dann einfach hingegangen zum Unabhängigen Frauenverband und habe gesagt, ihr braucht Bilder, ihr braucht Werbung, ihr könnt euch doch hier nicht mit so komischen Kopierzetteln, die keine Utopien vermitteln, gegen die großen Porträtplakate der großen Parteien durchsetzen! Das war eine sehr lebendige Zeit.In der düsteren Stimmung von „Genossin Kuckuck“ finden die Lichtblicke, also die solidarischen Momente des Zusammenlebens „in der höheren Gesellschaftsordnung“, die viele rückblickend vermissen, keinen Platz.Das ist schade, wenn es so rüberkommt. Es hat ja seine Gründe, warum ich in den Osten zurückgekehrt bin; und für dieses Dorf, in dem ich jetzt lebe, ist diese Solidarität durchaus da. Ich musste diese Dinge so erzählen, wie ich sie erzählt habe, ich bin da durchgegangen, aber ich hoffe, dass das Buch nicht wie eine Abrechnung mit der DDR wirkt! Die habe ich nicht nötig, ich stehe dazu, dass ich zum Beispiel an der Kunsthochschule Weißensee eine sehr gute Ausbildung hatte. Ich wollte kein melancholisches Retroding aufziehen, aber ich habe die Hoffnung, dass manche meine Erfahrungen wiedererkennen und darin auch eine Gemeinsamkeit stecken kann.