Das Versagen der Pädagogen

Odenwaldschule Die Aberkennung des Ernst-Christian-Trapp-Preises für Hartmut von Hentigs zeigt, wie sehr sich die pädagogische Disziplin in beliebigen Formulierungen verloren hat
Ausgabe 13/2017
„Weil die Unterstützung der Opfer im Zweifelsfall höher zu gewichten ist“. Welche Zweifel?
„Weil die Unterstützung der Opfer im Zweifelsfall höher zu gewichten ist“. Welche Zweifel?

Foto: Alex Grimm/Getty Images

Es liest sich erst einmal wie eine gute Nachricht: Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) erkennt Hartmut von Hentig den Ernst-Christian-Trapp-Preis ab. Der berühmte deutsche Pädagoge und prägende Intellektuelle Hentig hatte den Preis 1998 erhalten – in jenem Jahr, in dem mein Schulkamerad und ich die Odenwaldschule erstmals mit einem Verbrechen konfrontierten: dass wir und andere Schüler von dem damaligen Schulleiter Gerold Becker sexualisierte Gewalt erfahren hatten. Hentig äußerte sich viele Jahre nicht zu den Verbrechen seines Freundes Becker. Als die Auseinandersetzung über die sexualisierte Gewalt an der Odenwaldschule im Jahr 2010 ihren Zenit erreichte, schrieb Hentig Briefe mit dem Kommando, man müsse die Sache „aussitzen“.

Nun also ziehen die Erziehungswissenschaftler endlich Konsequenzen. Laut ihrer Stellungnahme wurde die DGfE mit „der Forderung konfrontiert“, Hentig „aufgrund seines Umgangs mit den Opfern“ den Trapp-Preis abzuerkennen. Der Vorstand sah sich „vor einem Dilemma“. Er habe zwischen der wissenschaftlichen Leistung Hentigs und seiner Verharmlosung der Taten seines Freundes an Kindern abwägen müssen. Relativierungen nehmen einen großen Raum in seinem Buch Noch immer mein Leben ein, das 2016 erschien. Der Verweis auf fremde Einflüsse soll wohl heißen: Ohne Forderungen von außen wäre Hentig immer noch Träger des Trapp-Preises – weil die DGfE aus eigenem Antrieb nicht Position bezogen hätte. Das bedeutet auch, dass sexualisierte Gewalt gegen Kinder immer noch relativierbar ist – selbst in der wichtigsten deutschen Pädagogenvereinigung. Es müssen nur auf der anderen Waagschale ausreichend pädagogische Orden am Revers angehäuft werden.

Die Pädagogengesellschaft nahm den Preis zurück, „weil die Unterstützung der Opfer im Zweifelsfall höher zu gewichten ist als die Anerkennung wissenschaftlicher Leistungen“. Im Zweifelsfall? Welche Zweifel? Man muss nur Hentigs 1.440 Seiten umfassendes jüngstes Buch lesen, um alle Zweifel auszuräumen. Nach der Lektüre kann man wohl attestieren, dass Hentig weder von Sexualität noch von Macht und Gewalt etwas versteht. Damit dürfte er der ideale Weggefährte für Gerold Becker gewesen sein, der ein Meister der Manipulation und eiskalt im Anwenden von Macht und Gewalt war. Hartmut von Hentig war für Becker vor allem eines: nützlich.

Ein Aufklärungsbericht schreibt Becker über 80 mutmaßliche Opfer zu. Hentigs Schilderungen im Buch aber lassen Becker zum Opfer und die Betroffenen sexualisierter Gewalt zu Tätern werden. Das ist grotesk – und ein Hinweis darauf, wie sehr sich die pädagogische Disziplin in beliebigen Formulierungen verloren hat. Wäre vor Jahrzehnten Klarheit darüber geschaffen worden, wie „Nähe zum Kind“ professionell zu gestalten ist, wären viele Reformpädagogen längst als inkompetent aufgefallen.

Die Entscheidung der DGfE mutet an wie eine des geringsten Widerstandes. Zukunftsweisend wäre, wenn sie der Startschuss für eine Pädagogik ist, die nicht nur die Kunst der schönen Worte pflegt, sondern theoretisch und – wichtiger – praktisch die Themen Macht, Sexualität und Gewalt bearbeitet. Es braucht an Schulen Handlungskonzepte für pädagogisch Arbeitende – damit Tragödien wie an der Odenwaldschule keine Chance haben.

Andreas Huckele enthüllte die Verbrechen an der Odenwaldschule

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