Debütroman von Özge İnan: „Natürlich kann man hier nicht leben“
Vorabdruck Izmir, 1990: Selim und Hülya studieren, sind politisch aktiv. Drei Jahre später ist da ein Brief. Özge İnan erzählt in ihrem Debüt die Geschichte der beiden – und von Nilay, der in Berlin geborenen Tochter, die 2013 zum Taksim-Platz will
Gehen oder bleiben, die Frage stellt sich allen Generationen in Özge İnans Roman
Foto: Harry Gruyaert/Magnum Photos/Agentur Focus
Selims Stimme klang merkwürdig belegt, das hörte Hülya schon, als er nur ihren Namen gesagt hatte. Sie blinzelte in die Morgensonne und sah auf die Uhr. Eigentlich hatte sie schon vor einer Stunde aufstehen wollen, doch ihr war noch immer dermaßen übel, dass daran nicht zu denken war.
„Was ist los?“, fragte sie, ohne ihn zu begrüßen. Es war ungewöhnlich, dass er sie so früh aus der Redaktion anrief, ihr Herz pochte heftig gegen ihren Brustkorb.
„Hülya, wann sollen wir noch mal unseren Termin bekommen?“
„Mitte Juni, in zwei Wochen. Warum?“
„Gut, hervorragend. Ich komme gleich nach Hause. Keine Angst.“
„Warum sollte ich ...“ Bevor Hülya ihren Satz beenden konnte, hatte er aufgelegt.
Z
z beenden konnte, hatte er aufgelegt.Zitternd wickelte sie sich in ihren Morgenmantel und wankte ins Wohnzimmer. Der Brief, der noch immer ungeöffnet auf dem Tisch gelegen hatte, als sie gestern von der Bibliothek nach Hause gekommen war, war verschwunden. Eine halbe Ewigkeit verstrich, bis sich Selims Schlüssel im Türschloss drehte. Sein Hemd war aufgeknöpft, die Ärmel hochgekrempelt, trotzdem klebte ihm sein Haar auf der Stirn. Er ließ seine Tasche auf den Boden gleiten, lief ins Wohnzimmer und fing an, Papiere zusammenzusuchen.„Sie erheben Anklage. Fünf Jahre beantragt die Staatsanwaltschaft“, sagte er, ohne aufzublicken, und eine Welle glühend heißer Panik rauschte durch Hülyas Körper. „Der Sender hat mir fristlos gekündigt“, fuhr er fort und steckte die Papiere in einen braunen Umschlag. „Ich fahre jetzt zu Haydar in die Kanzlei. Vielleicht kann er mir helfen.“„Was?“, fragte Hülya, weil sie kein anderes Wort zustande brachte.Selim leerte seine Tasche auf dem Sofa aus, stopfte den Umschlag hinein und warf sie sich über die Schultern. „Ich bin in ein paar Stunden wieder da.“„Stunden?“, wiederholte Hülya.„Es kommt alles in Ordnung, Hülya, ich bringe das in Ordnung, keine Angst. Wir besprechen alles, sobald ich zurück bin.“ Er nahm Hülyas Gesicht in beide Hände und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. „Bis gleich.“Das Zuschlagen der Wohnungstür hallte noch Minuten in Hülyas Kopf nach. Mit zitternden Fingern lockerte sie den Gürtel ihres Morgenmantels und legte die Hände auf ihren Bauch, der sich, wie zum Trotz, noch immer anfühlte, als wäre nichts. Für eine Sekunde blitzten in ihren Gedanken die Frühabortstudien auf. Voll schaudernder Neugier hatte sie in der Bibliothek gesessen und die Zahlen studiert, obwohl Selim ihr davon abgeraten hatte. So schnell ist ein Abgang gar nicht möglich, dachte sie und versuchte, gute Gedanken in ihren Bauch zu schicken, zu dem Etwas, das inzwischen die Größe einer Kirsche hatte. Die Staatsanwaltschaft konnte viel beantragen, am Ende würde es darauf ankommen, was das Gericht entschied.Er bringt das in Ordnung, dachte sie und stieg unter die Dusche. Er bringt das in Ordnung, dachte sie und legte Tomatenscheiben und Schafskäse zwischen zwei Fladenbrothälften. Er bringt das in Ordnung, dachte sie und setzte sich mit dem Lehrbuch zur Neurologievorlesung, die sie nacharbeiten musste, an den Schreibtisch, und als sie merkte, dass sie kein einziges Wort aufnahm, hatte sie schon sechs Seiten gelesen.Es dämmerte bereits, als Selim zurückkam. Sie lief ihm entgegen und fiel ihm um den Hals, und er erwiderte die Umarmung noch fester, als hätte er befürchtet, sie könnte sich in Luft aufgelöst haben.„Was hat Haydar gesagt? Was machen wir jetzt?“Selim setzte sich auf das Fensterbrett und zündete eine Zigarette an. Es war der einzige Ort, an dem es für Hülya einigermaßen erträglich war.„Der Gerichtstermin ist am Neunundzwanzigsten“, sagte er. „Haydar sagt Folgendes, und du musst mir jetzt gut zuhören und mich ausreden lassen.“Hülya kauerte sich in den Sessel neben ihm und atmete tief ein und aus, konnte aber die Tränen nicht zurückhalten.„Zwischen dem Tag, an dem wir unseren Hochzeitstermin bekommen, und der Verhandlung liegen vierzehn Tage. Wir haben das beschleunigte Verfahren beantragt, im schlimmsten Fall kann das zehn Tage dauern, sagt Haydar, nicht länger. Da es bis jetzt keinen Haftbefehl gibt, wird auch keiner mehr kommen, bis zum neunundzwanzigsten, dem Tag der Verhandlung. Sollten wir also erst am Fünfundzwanzigsten heiraten, heißt das ...“„Was?“, fragte Hülya mit bebender Stimme. „Ich verstehe überhaupt nichts. Wovon redest du?“„Lass mich ausreden, habe ich gesagt.“ Er blickte sie derart wütend an, dass sie beinahe zusammenzuckte. „Kurz gesagt: Im schlimmsten Fall muss ich hier innerhalb von vier Tagen weg.“Irgendwo tief in ihrem Inneren löste die Ruhe in seiner Stimme eine unbändige Angst aus. Wie von allein legten sich ihre Hände auf ihren Bauch.„Was soll das heißen, weg?“, fragte sie so ruhig wie möglich, aber es war eine misslungene Imitation der Gelassenheit, die aus seinem Gesicht sprach.Er legte den Kopf in den Nacken und blies Zigarettenrauch in den Garten. Draußen stand die Luft vollkommen still, der Rauch bewegte sich keinen Zentimeter. „Wir haben hin- und herüberlegt, wie wir es machen. Mit Papieren oder ohne. Aber die Zeit ist zu knapp, um einen ordentlichen Pass fälschen zu lassen. Wir haben uns mit Leuten getroffen, die mir helfen können. Ich werde mit einem von ihnen in Çeşme ein Boot nehmen, ein normales, registriertes Fischerboot, rüber nach Griechenland, und dann ...“„Nach Griechenland?“„Verdammte Scheiße, Hülya, lass mich ausreden!“ Selim stampfte heftig auf und rieb sich sofort seinen Knöchel.„Scheiße!“„Dann erklär es mir so, dass ich nicht nachfragen muss“, sagte Hülya. Jetzt ist wirklich nicht der Zeitpunkt, um zu weinen, dachte sie, aber sie konnte nichts dagegen tun. „Was ist mit der Gerichtsverhandlung?“Placeholder infobox-1Er schüttelte den Kopf, als hätte er gerade den absurdesten Satz seines Lebens gehört, und legte seine Zigarette in den Aschenbecher. Der Rauch stieg wie eine geradegezogene Schnur in Richtung Decke. „Nichts ist mit der Gerichtsverhandlung. Ich gehe nicht hin.“ Als Hülya ihn einige Augenblicke schweigend angesehen hatte, fügte er hinzu: „Das ist doch völlig klar. Denk doch bitte mal mit: fünf Jahre. Ich weiß, dass du hierbleiben willst. Aber ich dachte, wir müssen gar nicht darüber reden, dass das hier“ – er deutete vage auf seine Tasche – „alles ändert.“Der Knoten in Hülyas Brust schwoll so schnell an, dass sie die flache Hand auf ihren Brustkorb drückte, um ihn aufzuhalten. Es brachte nichts.„Und was ist mit mir?“, presste sie hervor. „Bin ich überhaupt Teil deines schlauen Plans?“„Mach dich nicht lächerlich, Hülya“, sagte Selim flehend. „Du bist der Grund für meinen schlauen Plan. Ginge es nur um mich, würde ich hingehen und sagen, meinetwegen könnt ihr mir fünf oder zehn oder dreißig Jahre geben, es wird die Realität nicht ändern, und die Realität ist, dass die Kurden unsere Scheiße nicht mehr fressen, ob es uns gefällt oder nicht.“ Er stand auf und ging vor dem Fenster auf und ab. „Es geht aber nicht nur um mich, es geht um uns. Ich kann nicht einfach wie Selim entscheiden, ich muss wie ein Vater entscheiden.“Hülya folgte ihm mit den Augen, bis er sich schließlich zurück auf das Fensterbrett setzte, die Zigarette ausdrückte und eine neue anzündete. Von seiner anfänglichen Ruhe war nichts übrig, sein Oberkörper bebte unter dem nutzlos gewordenen weißen Bürohemd. Nie wieder wird er die Redaktion betreten, dachte Hülya, nachdem er so lange darauf hingearbeitet hat. Mitleid flammte in ihr auf, und sie gab sich alle Mühe, es beiseitezuschieben. Schon wieder hatte er hinter ihrem Rücken gehandelt, Entscheidungen getroffen, Pläne geschmiedet, ohne sie zu fragen. Pläne, in denen ihre Rolle vorgefertigt und in Beton gegossen war. Sie kannte die Geschichten über andere Emigranten, denen sie immer nur mit halbem Ohr zugehört hatte, weil ihre Gefühle dabei zu fremd und zu unheimlich gewesen waren, um ihnen nachzuspüren. Mit hämmerndem Herzen stellte sie sich vor, wie sie einige Monate allein in dieser Wohnung zurückbleiben würde, mit immer größerem Bauch und den drängenden Fragen ihrer Familie, und wie sie schließlich auf einen Anruf hin in der Fremde verschwinden und hin und wieder Postkarten nach Gültepe schicken würde, mit doppelt unterstrichenem Turkey am unteren Ende der Adresszeile.Alles in ihr krampfte sich zusammen. Und doch konnte sie nicht anders, als auch jetzt noch eine unbestreitbare Zärtlichkeit zu spüren, wenn sie Selim ansah. Sein Hinterkopf war an den Fensterrahmen gelehnt, die Augen geschlossen, seine Brust hob und senkte sich. Von beiden Seiten strahlte ihn weiches orangenes Licht an. Vielleicht realisiert er erst jetzt, was der heutige Tag für uns bedeutet, dachte Hülya. Vielleicht hat er für diesen Fall auch längst Vorbereitungen getroffen und mir nichts erzählt, um mir keine Angst zu machen. Und plötzlich krachte eine Ahnung mitten in den Strudel ihrer Gedanken herein, eine Ahnung, die alles in Stücke schlug. Sie würde ihn nicht mehr aufhalten können.„Wofür machen wir das alles?“, fragte sie nach einer Weile, doch Selim sah sie nur verständnislos an. „Das hast du mal zu mir gesagt, als ich mich über die Türkei aufgeregt habe. Ich weiß gar nicht mehr, worum es ging. Aber in dem Moment habe ich gedacht, dass du einer der ehrlichsten Menschen bist, die ich je getroffen habe. Weil andere tolle Reden über den Internationalismus schwingen und darüber, dass die Arbeiterklasse kein Vaterland hat. Aber am Ende sind es eben doch die Leute dieses Landes, für die man es macht. Du hast dich dein ganzes Leben mit ihnen abgemüht. Du hast dich von ihnen denunzieren und verprügeln und einsperren lassen, obwohl du ein entspanntes Leben hättest haben können. Und du hast es getan, weil du sie liebst, egal, wie einseitig diese Liebe war.“ Sie versuchte die Tränen wegzuatmen, aber es funktionierte nicht. „Ich kann es einfach nicht glauben, Selim. Das soll es jetzt gewesen sein? Wir gründen eine Kleinfamilie und verziehen uns ins Ausland, wo es schön bequem ist?“„Du sagst das, als wäre es nicht einfach vernünftig.“ Das bittere Lächeln, das sich kurz auf Selims Gesicht andeutete, war sofort wieder verschwunden. „Hör zu, ich habe ein einziges Mal den Fehler gemacht, jemand anderen für meine politischen Ziele in Gefahr zu bringen. Danach saß ein völlig unschuldiger Mann im Gefängnis, Gott weiß, wie lange, und die Frau, die ich geliebt habe, wollte mich nie wiedersehen. Ich mache das nicht noch einmal, schon gar nicht mit meinem eigenen Kind.“ Er rutschte vom Fensterbrett, ging vor ihr in die Hocke und legte seine Hände auf ihre Knie. „Ich kann nicht riskieren, fünf Jahre von euch getrennt zu sein. Egal, wie unwahrscheinlich es ist. Das geht nicht. Was fünf Jahre im Leben eines Kindes bedeuten, das kann man sich gar nicht ...“ Hülya hob die Augenbrauen. Selim stockte und schlug die Augen nieder. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“ Er griff nach ihren Händen und sah sie mit einem Blick an, in dem eine Erwartung lag. Wie in Zeitlupe sah sie sich durch seine Haare streichen, dann über sein Gesicht, sah, wie er die Augen schloss und seine Wange in ihre Hand legte, und der Satz kam einfach und selbstverständlich über ihre Lippen, als habe er irgendwo in ihrem Inneren darauf gewartet, in die Welt zu dürfen.„Also gut, gehen wir nach Deutschland.“