Der Genosse mit dem Punk

Sachsen Inhaltlich ist die Linkspartei für die kommende Landtagswahl gut aufgestellt. Nur die Wähler gehen ihr aus
Ausgabe 28/2019

Wer in der DDR das 14. Lebensjahr erreicht hatte, bekam zur Jugendweihe ein Buch überreicht. Zwischen 1975 und 1982 hieß es Der Sozialismus, Deine Welt. Ein fast 500 Seiten starker Wälzer, randvoll mit sozialistischer Propaganda. Die SED düngte ihr Fortbestehen, auf dass die Jugend nicht gegen die „menschenwürdige Gesellschaftsordnung des Sozialismus“ rebelliere. „Denn die Welt braucht dich“, steht auf den letzten Seiten.

Gebraucht wurde die Jugend freilich nur für das, was die Älteren bereits für alle Zeiten beschlossen hatten. Wie es mit dem Sozialismus weiterging, ist bekannt. Ein vor diesem Hintergrund realsozialistischer Geschichtsschreibung kleiner, aber nicht unbedeutender Moment trug sich beim Landesparteitag der sächsischen Linkspartei in Chemnitz zu. Ende Juni redeten, stritten und votierten hier acht Stunden lang Jung und Alt. 186 Änderungsanträge zum Wahlprogramm lagen auf dem Tisch. Die Stimmung war eher verhalten – nur ein einziges Mal durchdrang ein Jubelschrei die Halle – eine Handvoll Delegierter der Linksjugend feierte, dass nun ins Wahlprogramm gelangte, was sie seit Jahren fordern: das „Wahlalter 0“, der Einsatz für ein „aktives und passives Wahlrecht aller Personen ohne Altersbegrenzung“. 54 Ja-, 53 Nein-Stimmen, 15 Enthaltungen. Die Jugend bestimmte mit, wer zukünftig mitbestimmten darf, auf dem Weg zum demokratischen Sozialismus.

Kopfschütteln bei einigen Älteren. Gibt es nichts Wichtigeres, so kurz vor der Landtagswahl am 1. September, nach den desaströsen Wahlergebnissen bei Europa- und Kommunalwahl zuletzt? Es gilt, Wähler zu gewinnen. Vor allem junge. Die wählen zurzeit eher grün, während andere drohen rechts verloren zu gehen. Die CDU meint ihre Lösung für dieses Problem gefunden zu haben: Ministerpräsident Michael Kretschmer bewies durchaus Gespür für seine Landsleute, als er jüngst bei einem Treffen mit Wladimir Putin in St. Petersburg ein Ende der Russland-Sanktionen forderte – der scharfen Zurückweisung in bundesdeutschen Medien stand übergreifender Zuspruch in Sachsen gegenüber. Es passiert nicht oft, dass ein CDU-Politiker Lob sowohl von der AfD als auch der Linkspartei erhält. Einzig die Grünen kritisierten seine Forderung als „verantwortungslos“.

Friede, Russland, Eierkuchen

Verständnis für Putin und der Wunsch nach einer stärkeren Kooperation mit Russland sind in Sachsen weitverbreitet. Dahinter stehen auch handfeste ökonomische Interessen. Für die sächsische Wirtschaft ist Russland einer der wichtigsten Handelspartner, die Sanktionen haben zu spürbaren Einschnitten geführt. Aber auch aus DDR-Zeiten tradierte Prägungen spielen eine Rolle.

Auf dem Landesparteitag waren die älteren Genossen der Deutsch-Russischen Freundschaft vor Ort und brachten fleißig Anträge ein; Frieden mit und die Nähe zu Russland sollen im Wahlprogramm noch präsenter werden. Unverständnis bei den Vertretern der Linksjugend. Nähe zu Russland, das gilt vielen jungen Linken als Chiffre für den antiimperialistischen Schulterschluss mit den Rechten, die sogenannte Querfront. Mit Freundschaft zu Putin können die Erstwähler, bei denen der Mauerfall schon bei Geburt zehn Jahre zurücklag, ohnehin wenig anfangen.

Alte und junge Linke haben aber nicht nur Differenzen. Seit Mitte der nuller Jahre erneuert sich die Partei. Neben einer Frauenquote werden bei der Besetzung der Parteilisten Neueinsteiger bevorzugt. Der Generationenunterschied zwischen Alt- und Neumitgliedern ist nicht nur ein Handicap. Wenn ehemalige SED-Genossen mit jugendlichen Punks zusammenarbeiten, werden Lebensrealitäten in beide Richtungen normalisiert. Bei allem mutmaßlichen Dogmatismus: Linkspartei-Senioren sind in Lebensstilfragen meist toleranter als ältere Sozialdemokraten. Die Sammlungsbewegung Aufstehen ist hier auch deshalb gescheitert, weil sich die Partei in Sachsen schon immer als eine solche versteht. Neben orthodoxen Landesarbeitsgemeinschaften wie der Deutsch-Russischen Freundschaft, Frieden und internationale Politik oder der Kommunistischen Plattform gibt es jüngere Arbeitskreise zu Migration, Ökologie oder queerer Politik. Das führt immer wieder zu Konflikten, doch für die Kommunal- und Landespolitik spielen geopolitische Fragestellungen kaum eine Rolle. Jan Korte, parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, stellte in Chemnitz fest: „Ich habe noch nie einen Malocher getroffen, der morgens zur Schicht fährt und sich fragt: Wie komme ich denn aus der NATO raus?“

Das Thema Russland eint die älteren Ostdeutschen. Auch Pegida gründete sich unter anderem als Reaktion auf eine als unausgewogen wahrgenommene Berichterstattung über den Konflikt in der Ostukraine. Noch heute kursiert auf den Kundgebungen in Dresden die linke Tageszeitung Junge Welt, weil sie außenpolitisch auf der gleichen Linie liegt. Das Wort „Sozialismus“ sollte man hier lieber nicht laut aussprechen, dennoch ist es bei der Kommunalwahl im Mai vorgekommen, dass dieselben Wähler ihre Kreuze bei der AfD und der Linken machten. Dass die Linke Wähler direkt aus dem rechtspopulistischen Milieu zurückgewinnen kann, ist vielleicht nur im Osten möglich. Antiimperialismus und Bürokratiekritik haben viele Sachsen aus ihrer DDR-Biografie mit in die Nachwendezeit genommen. Wer sich im Osten Volkspartei nennen will, muss das begreifen. Bisher kann neben der CDU nur die Linkspartei dieses Label beanspruchen. Sie sitzt sehr häufig in den Stadträten, stellt fünf Oberbürgermeister und Oberbürgermeisterinnen in Ostdeutschland und verfügt über eine zweistellige Anzahl von Sitzen in allen Landtagen, in Sachsen derzeit 27 von 126. Mit knapp 8.000 Mitgliedern ist Sachsens Linke größer als AfD, Grüne und FDP zusammen. Solche Präsenz kennt die Partei nur hier. Das verleitete Jan Korte – er ist Bundesabgeordneter für den Wahlkreis um Bitterfeld in Sachsen-Anhalt – beim Parteitag zu den Worten, die Linke sei „die einzige glaubwürdige Vertretung ostdeutscher Interessen“.

Das sagt Katja Kipping

Das könnte überzeugend wirken, wären da nicht die Wähler. Angekreuzt werden die Linken weniger denn je. Bei den vergangenen Kommunalwahlen verloren sie in Sachsen im Vergleich zu 2014 fast ein Drittel ihrer kommunalen Mandate, bei der Europawahl knapp sieben Prozent – die stärksten Verluste seit 1990, „ein Warnsignal“, so Katja Kipping in Chemnitz, „wir stecken in einer existenziellen Krise“. Kippings Bundestags-Wahlkreis liegt in Dresden. Und das in einer hochpolitischen Zeit: Die Wahlbeteiligung bei Europawahlen stieg in Sachsen 2019 gegenüber 2014 um knapp 26 Prozent. Die AfD kam auf 25, die Grünen auf 10, die Linke auf 11,7 Prozent. Letztere hatte bei den Landtagswahlen 2014 noch 19 Prozent geholt, letzte Umfragen sehen sie dieses Mal bei 15.

Einerseits möchte die Partei jene jungen linken Kosmopoliten gewinnen, die gerade den Grünen zufliegen, andererseits jene nicht vergraulen, die statt Inklusion, gendergerechter Sprache und Kohleausstieg eher höhere Löhne und Renten, niedrigere Mieten und die deutsch-russische Freundschaft für vorrangig halten. Das erfordert unterschiedliche Ansprachestrategien. Nach der Vorstellung derer, die den real existierenden Sozialismus noch erlebt und nicht nur in schlechter Erinnerung haben, soll die Linke eine Kümmererpartei sein. Sie soll Straßen bauen, Kita-Plätze sichern und ein offenes Ohr für Lebenserfahrungen und Kränkungen haben. „Ostdeutsche Lebensleistung anerkennen“ – dieser Antrag wird mit großem Zuspruch ins sächsische Wahlprogramm aufgenommen.

#unteilbar in Dresden

Die Jungen möchte die Partei bei Initiativen wie Fridays for Future, Ende Gelände und den #unteilbar-Demos – nach Berlin zuletzt in Leipzig und am 24. August in Dresden – abholen. Kraft der logistischen und finanziellen Unterstützung, die die Linkspartei für diese Initiativen leistet, genießt sie im studentisch geprägten Leipzig Zuspruch, tritt entsprechend selbstbewusst auf. Bei den Kommunalwahlen im Mai wurde sie in der größten Stadt des Freistaates stärkste Kraft. Vor zwei Jahren zog der Leipziger Grundschullehrer Sören Pellmann per Direktmandat in den Bundestag ein (der Freitag 40/2017). Eine „linke Insel“ im „rechten Sachsen“ ist Leipzig dennoch nicht: Gerade erst wurden drei junge Linkspartei-Mitglieder beim Plakatieren von einer Gruppe Neonazis angegriffen.

Die Partei hat noch einen weiteren Feind: den Tod. Sachsen ist alt, und Sachsen ist vor allem Fläche. Allein der deindustrialisierte Erzgebirgskreis verfügt über mehr Wahlberechtigte als Leipzig, die zehntgrößte Stadt Deutschlands. Dort gehen der Linken die Stammwähler verloren. Jeder vierte Sachse ist 65 Jahre und älter. 2007 hatte die Partei hier noch 5.000 Mitglieder mehr als heute: 13.000. Hauptproblem der Linken ist das Fehlen der mittleren Jahrgänge, die den demografischen Verlust ausgleichen könnten – jene Wendegeneration, die nach 1989 wegging oder heute oft bei Pegida marschiert und überdurchschnittlich häufig AfD wählt, und sei es, um dem Ärger auf „die da oben“ Luft zu machen.

Den Nimbus als Protestpartei, deren Erfolg Etablierte ärgert, hat die Linke vielerorts eingebüßt. Im aktuellen Wahlkampf steht sie aber noch vor einem anderen Problem. Wer taktisch mit Blick auf die Regierungsbildung und gegen die AfD wählen will, landet eher nicht bei einer Oppositionspartei ohne große Machtperspektive. Zukunft Sachsen etwa, die Initiative eines Leipziger Jura-Studenten samt Freunden, fragt per Webseite: „Willst Du von von der AfD regiert werden?“ Und fordert offensiv dazu auf, für CDU, SPD oder Grüne, nicht aber Linke oder FDP zu stimmen.

Wie stark die AfD wird, hängt nun aber vor allem davon ab, welche Folgen es hat, dass der Landeswahlausschuss wegen Formfehlern alle hinter Platz 18 gelegenen Kandidaten ihrer Wahlliste gestrichen hat. Eine Koalition mit der AfD hat zumindest Ministerpräsident Kretschmer rigoros ausgeschlossen. Zu einer blau-schwarzen Perspektive möchte auch die Initiative #umkrempeln Alternativen aufzeigen, aber anders als Zukunft Sachsen – die Gruppe junger sächsischer Politikerinnen und Politiker signalisiert Bereitschaft für ein rot-grün-rotes Bündnis. Dass dieses an der Wahlurne eine Mehrheit erzielt, käme wohl einem Wunder gleich. Für die Linken soll es Rico Gebhardt bewerkstelligen. Der 56-jährige gelernte Koch aus dem sächsischen Erzgebirge ist Spitzenkandidat. Doch obwohl er seit sieben Jahren Oppositionsführer im Landtag ist, kennt ihn nur ein knappes Drittel der Bevölkerung.

Gebhardt ist ein Kompromisskandidat, mit dem die meisten, ob jung oder alt, können, der aber kaum jemanden mitreißt. Im Internet, bei Twitter, beschrieb er jüngst, wie er die Lager zusammenleimen will: „Ich war, ich bin, ich werde Sozialist bleiben, auch wenn das nicht allen im Lande gefällt. Meine Grundüberzeugung lautet: Der Kapitalismus kann und darf nicht das letzte Wort in der Geschichte der Menschheit behalten!“

Sozialismus, jenes Wort, das bei der SPD Angstschweiß auslöst und das Grüne höchstens tuscheln – bei Gebhardt klingt es ein wenig so, als solle es die Älteren nicht unangenehm an früher erinnern und als wüssten die Jungen, wie damit die Erderwärmung in den Griff zu kriegen sei.

Konstantin Nowotny, geboren 1990 in Leipzig, ist freier Mitarbeiter des Freitag

Felix Schilk, geboren 1989 in der sächsischen Provinz, ist Doktorand an der TU Dresden

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