Erwachen „Es tönen die Lieder“ und der Gesang der Vögel: Der Frühling macht alles leichter – auch im Prenzlauer Berg. Barfuß blicken wir einer besseren Welt entgegen, mit Barbara Thalheim, den Beatles und einem TikTok-„Protestsong“. Unser Lexikon
Trällert uns den Frühling herbei: Ein Gartenrotschwanz
Foto: Anthony Mercieca/Science Photo Library
A
wie April in Paris
Der zarte Song April in Paris, der die blühenden Kastanienbäume und festlich gedeckten Restauranttische unter freiem Himmel der französischen Hauptstadt der Liebe besingt, wurde 1932 für die Broadway-Revue Walk a Little Faster von Vernon Duke und dem Texter E. Y. Harburg komponiert. Die damals mittelmäßig erfolgreiche Show würde heute niemand kennen, hätte Count Basie den Song nicht 1955 mit großer Big Band dynamisch aufregend und neu interpretiert. Es soll der erfolgreichste Song von Count Basies Band werden, er kam auf Platz 28 der Charts. April in Paris wurde also 22 Jahre später zum Jazz-Standard, und alle Großen sangen und spielten den Song: Billie Holiday, Frank Sinatra, Thelonious Monk, Charlie Parker, Shirley
inatra, Thelonious Monk, Charlie Parker, Shirley Bassey und viele mehr. Besonders anmutig und zeitlos bleiben die Vokalinterpretationen. Darunter das leicht zuckrige Duett von Ella Fitzgerald und Louis Armstrong. Zerreißend schön ist die Version von Sarah Vaughan gemeinsam mit dem Trompeter Clifford Brown. Ji-Hun KimCwie Charlie ChaplinWenn die Vöglein (→ Kleine Meise)wieder singen, Wale sich wälzen und Stinktiere und Würmer gleichermaßen mit ihren Schwänzen wedeln, alle in der Hoffnung auf Liebe, dann ist wieder der Frühling der Liebe ausgebrochen, den Charlie Chaplin in seinem Spring Song feiert. In Limelight (dt. „Rampenlicht“), jenem späten Chaplin-Film, zu dem er auch den schwermütigen Cello-Soundtrack komponierte, ist der Spring Song nur einer der Höhepunkte. Wer noch einen Beweis braucht, warum Charlie Chaplins Genie unvergleichlich ist, schaue sich an, wie im Film hier zunächst eine Blume gepflückt, gesalzen und genüsslich verspeist wird, ehe Chaplin, damals in seinen Sechzigern, zu tanzen und zu hüpfen anfängt, dass es eine Lust ist. Oder, um es mit Worten des Songs zu sagen: It’s love, it’s love, it’s lovelovelovelovelove! Beate Tröger Hwie Here comes the sunDa kommt sie endlich, die Sonne, nach diesem langen, kalten Winter: „Here comes the sun, doo-doo-doo-doo / Here comes the sun / And I say, it‘s alright.“ Einer der schönsten Songs der Beatles stammt von George Harrison und handelt vom Frühling. Am 26. September 1969 kam Here comes the sun auf Abbey Road heraus. Schon in der Spätphase der Band: zu einer Zeit, als die Beatles fast nur noch mit Banken und Rechtsanwälten zu tun hatten, wie sich Harrison mal erinnerte. Komponiert hat er das Stück im Garten von Eric Clapton im Frühling 1969 in Erinnerung an einen jener englischen Winter, die niemals enden wollen. Einer Legende nach folgte der Song auf den Winter mit den wenigsten Sonnenstunden in England. „Wenn der Frühling kommt, hast du das wirklich verdient“, so Harrison, der auch singt und die meisten der Instrumente spielt. Mehr als eine Milliarde Streams hat der Song auf Spotify. Das mag an der Schönheit der Komposition liegen und an der ewigen Sehnsuchtnach Sonne. Marc PeschkeJwie Joseph HaydnDie wundervolle Arie Nr. 4 aus dem ersten Teil, Frühling, von Joseph Haydns 1801 in Wien uraufgeführtem Oratorium Die Jahreszeiten habe ich als Schüler in einem Schulkonzert gesungen: „Schon eilet froh der Ackersmann / zur Arbeit auf das Feld, / in langen Furchen schreitet er / dem Pfluge flötend nach“, und so weiter. Haydn soll den Text (des Barons Van Swieten) unpoetisch gefunden haben, dabei ist doch zum Beispiel „dem Pfluge flötend“ eine schöne Alliteration. „Flötend“ soll heißen, dass der Ackersmann pfeift, das Pfeifen wiederum wird in der Orchesterbegleitung von der Piccoloflöte (→ Martinstrompete) dargestellt, verstärkt durch Oboe und Waldhörner. Sie zitieren die Melodie aus dem Andante der Londoner Sinfonie mit dem Paukenschlag (1792), die schon damals zu Haydns populärsten Einfällen gehörte. Michael JägerKwie Kleine Meise„Erst im Frühling, erst im Frühling, / Wenn das Schneeglöckchen blüht“, wird die Kleine Meise ihr Lied mit uns teilen. Sehnsucht nach dem Gesang der Vögel enthält auch Wolfgang Amadeus Mozarts Komm lieber Mai und mache, das sich Kuckucke und Nachtigallen herbeisehnt. Das bekannteste Lied, das von Saisonaufbruch und den gefiederten Freunden handelt, ist natürlich Alle Vögel sind schon da von Heinrich Hoffmann von Fallersleben, von dem auch die deutsche Nationalhymne stammt. Das Vogellied (→ Charlie Chaplin) ist sympathischer, auch wenn der Frühling hier „einmarschieren“ will. „Welch ein Singen, Musiziern, / Pfeifen, Zwitschern, Tiriliern!“ bricht hier an, weil die ganze Singvogelwelt versammelt ist. Ein Piepmatz kommt auch in einem Minnelied vor, das den Namen Frühling und Frauen erhielt. Walther von der Vogelweide schuf es vor 800 Jahren. Da dringen die Blumen aus dem Gras. Aber alle Aufmerksamkeit bekommt ein „edles Fräulein, hold zu schauen“. Tobias Prüwer Mwie MartinstrompeteEs tönen die Lieder – der dreistimmige Frühlingskanon unbekannten Ursprungs, 1853 zum ersten Mal öffentlich aufgeführt und noch heute immer wieder gern gesungen, hat es in sich. Denn rätselhaft erscheint seit jeher der dritte Vers, in dem behauptet wird, ein Hirte spiele auf seiner Schalmei. Schließlich war diese in der deutschen Volksmusik eher ungebräuchlich. Abgesehen davon hätte der scharfe Klang des Holzblasinstruments wahrscheinlich die Schafe verschreckt. Das gilt auch für die in der Arbeiterbewegung beliebte Martinstrompete, volkstümlich Schalmei genannt. Das legendäre Geschenk Erich Honeckers an Udo Lindenberg im Jahr 1987 wurde erst im 20. Jahrhundert erfunden. Bescheiden wir uns also mit der einfachsten Erklärung: Eine Flöte (→ Traumzauberbaum) hätte schon von der Betonung her nicht gepasst. Joachim FeldmannPwie ProtestsongRichtig trällernd kommt es daher: Früüüühling. Dieses langgezogene „ü“ schmeißt einen aus den hörgewohnten Bahnen seichter Popmusik. Eventuell täuscht es aber auch nur schlecht darüber hinweg, dass die Zeile zu wenig Silben hat. Die Sängerin Soffie ist diesen Januar mit dem Song Für immer Frühling auf TikTok viral gegangen. Er trifft einen Nerv. Zu Klavier-Akkorden, die an Danger Dans Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt erinnern, träumt sie von einem Paradies des ewigen Frühlings. Und weil sie ganz groß träumt, gibt es dort statt Milch und Honig Kaviar und Hummer im Üüüüberfluss. Der Song hat gleich zweimal zu wenig Silben in der Zeile, wenigstens ist sie konsequent. Weil Für immer Frühling als Hintergrundmusik in Videos von Anti-AfD-Demos genutzt wurde, durfte Soffie ihren „Protestsong“ gleich selbst auf den Demos singen und ihn um eine zweite Strophe ergänzen: Bitte keine Toten mehr im Mittelmeer, Herz-Emoji. Keine Kritik, keine Wut, keine politische Forderung. Darf so etwas handzahmes überhaupt Protestsong heißen? Alina Saha Swie Schönhauser„Die Leute stehen an der Ecke Schlange / Nach ersten Veilchen und Vergissmeinnicht / Ich warte heut’ auf dich besonders lange / Denn ohne Blumen kommst du sicher nicht!“, sang Barbara Thalheim Anfang der 1970er Jahre in ihrem Lied Frühling in der Schönhauser. Und so singen auch heute noch Nylon in ihrer Coverversion von 2004. Ich sehe mich selbst die Schönhauser Allee entlanggehen, schnellen Schritts. Irgendwas, nein, irgendwer zieht mich magisch an. Aber ohne Blumen will auch ich nicht vor der Tür stehen. Also vorher noch in den Blumenladen. Rosen? Klar! Rote? Nee, nicht gleich beim ersten Mal. Weiß? Nein, um Unschuld geht’s hier nicht. Gelb? Könnte missverstanden werden. Also orange diesmal. Später trug ich so einige Sträuße roter Rosen aus dem Laden und dann um die Ecke in eine Nebenstraße der Schönhauser. Lange her. Michael SuckowTwie Traumzauberbaum„Ich habe Lust auf eine grüne Wiese, auf der ich ohne Schuh spazieren geh.“ Die pure Lust auf den Lenz besingt Reinhard Lakomy auf der Platte Traumzauberbaum. Seit Kindheitstagen begleiten mich die Zeilen: „Ich bin doch kein Schneemann, ich freu mich, wenns Frühling wird.“ Und noch heute schmettere ich sie mit, leg das Lied hin und wieder auf, wenn die Himmelsschlüssel sich endlich mal im Garten blicken lassen können. Wenn das Frühlingserwachen ansteht. „Wenns Frühling wird, fängt alles zu blühn an, wird die Welt bald so herrlich weit, so herrlich weit.“ Ähnliches Gefühl entsteht, um biografisch zu bleiben, bei Awakening von der irischen Band Waylander. Textlich geht es um aufkommendes Grün, Wind in den Haaren, Freiheit. Aber das metallische Melodiechen wird vom herzerwärmenden Spiel einer Tin Whistle, der irischen Schnabelflöte (→ Martinstrompete), getragen. Es ist kein Frühlingslied, könnte aber von der Stimmung her eines sein. Wie nicht wenige Metal-Songs, die einfach sorglos nach vorn preschen. So wie sich der Frühling dann hoffentlich bald Bahn bricht. TPZwie ZuversichtEin bisschen Blues, Jazz, traditionelle neapolitanische Gitarre. Dann fängt Pino Daniele an zu singen, mit dieser hohen Stimme: „Il nostro amore vola, sul mondo e le cittá, per non lasciarti sola, in mezzo alla vita a penzà.“ Pino Daniele hat das neapolitanische Volkslied in ganz Italien populär gemacht, eines seiner schönsten ist Questa Primavera (Dieser Frühling). Es handelt von den Dingen des Lebens. Von Melancholie, Leichtigkeit, Sehnsucht. Und vom Frühling, der Liebe und Hoffnung bringen wird. Dieser Frühling wird die Welt besser machen, glaubte Pino Daniele, der 1955 als Sohn eines Hafenarbeiters in Neapel geboren wurde. Später ging er mit Santana auf Tour. „Europa wird sich ändern, die Menschen werden ehrlicher, Frieden wird kommen“, diese Kraft traute Pino Daniele der Jahreszeit zu, in der wir alle zuversichtlich sein wollen. Maxi Leinkauf
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