Ein junger Mann steigt zur Arbeit auf das Dach eines leer stehenden Gebäudes. Hier oben ist sein Zuhause, hier ist er ganz bei sich. Wenn er arbeitet, kontrolliert er seinen Atem, ruhig muss er sein, wie sein Arm, wie seine Hand. Er ist einer der Besten in dem, was er zum Kunsthandwerk verklärt. Sein Anspruch ist hoch, Qualität geht vor Quantität. Er ist Scharfschütze.
Wenn ein Buch einer Triggerwarnung bedarf, dann dieser ausschließlich aus der Täterperspektive erzählte Debütroman. Der Goncourt-Preisträger Mathias Enard, geboren 1972 in Niort, hat ihn vor 20 Jahren geschrieben. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Der perfekte Schuss gerade jetzt erstmals auf Deutsch erscheint, wo in Europa wieder zu den Waffen gegriffen wird. Enard kennt de
ird. Enard kennt den Krieg aus eigener Erfahrung: Im Libanon hat er beim Roten Kreuz gearbeitet, in Syrien seinen Militärdienst geleistet.Über Ort und Zeit des Romangeschehens lässt sich nur spekulieren. Befinden wir uns in Beirut? Inmitten des libanesischen Bürgerkriegs? Letztlich sind diese Fragen ebenso müßig wie die nach dem Namen des Protagonisten. Jeder Krieg wertet die Werte um, irritiert die Nadel im moralischen Kompass. Enard erzählt erschütternd von dem, was in der Berichterstattung der Medien kaum und in der Rhetorik der Kriegspropaganda gar nicht vorkommt: von der Verlorenheit eines Täters.Das Scharfschießen ist BeruhigungsmittelDer Ich-Erzähler sehnt sich nach Anerkennung, Liebe, einer Familie. Der Vater ist tot, der Bruder verschwunden. Die Mutter hat sich in den Wahnsinn verabschiedet. Nachts steht sie nackt auf dem Balkon, schreiend, weinend. Ihr Sohn ist hin- und hergerissen zwischen Mordgedanken und so etwas wie Mitleid. Was ihm bleibt, ist die 15-jährige Myrna, die Pflegerin seiner Mutter. Er begehrt sie, doch die Scham steht seiner Libido im Weg. Gebraucht will er werden, wie ein „Schutzengel“, aber auch gefürchtet. Dabei hat sein Selbstwertgefühl die Stabilität eines Kartenhauses. Sexuelle Frustration vermischt sich mit Angst, Hass und Wut zu einem hochexplosiven Cocktail. Das Scharfschießen ist sein Beruhigungsmittel, das Gewehr verleiht ihm Kraft, es vervollständigt ihn.Die ganze Bestialität des Krieges zeigt sich in den nachhaltig verstörenden Szenen auf und neben dem Schlachtfeld. Leicht hätten die drastischen Schilderungen von Folter, Vergewaltigung und Massakern ins Voyeuristische abrutschen können. Doch für Mathias Enard ist das Böse weder faszinierend noch banal. Das unterscheidet ihn von einem Schriftsteller wie Jonathan Littell, der in seinem Naziverbrecher-Roman Die Wohlgesinnten (2006) das Grauen bloß affirmiert. Enard leuchtet stattdessen die widersprüchliche Gedanken- und Gefühlswelt seines Protagonisten aus.Einmal, in einer Sommernacht am Anfang des Krieges, badet dieser mit seinem Freund Zak im Meer, während es in den nahen Bergen Bomben hagelt. Sie spielen Toter Mann, kommen sich nahe, ein Moment der Intimität. Doch inzwischen ist Zak so geworden, wie der Erzähler nicht werden will, bei aller Brutalität. Als Zak eine junge Frau vergewaltigt, richtet der Scharfschütze das Gewehr auf ihn, so wie er es in seinen Albträumen auf sich selbst richten wird.Unendliche HoffnungSprachlich wechselt Enard Rhythmus und Tonhöhe mit den Befindlichkeiten des Ich-Erzählers. Wenn der an seine Grenze kommt, wenn er nicht mehr kann, deliriert die Sprache. Wenn er aber über das Präzisionsschießen doziert, herrscht kühle Sachlichkeit. Eine Patrone pro Tag, sagt er, am liebsten im Morgengrauen. Je schwieriger der Schuss, desto befriedigender der Treffer. Sein erstes Mal hatte er mit 17. Ein Taxifahrer. Der Krieg war gerade ausgebrochen. Das ist jetzt drei Jahre und viele getötete Zivilisten her. Frauen waren darunter, Kinder in Schuluniform.„Ich hauche ihnen Leben ein, indem ich sie ansehe, ich mache sie lebendig, indem ich sie töte.“ Der Satzbau folgt der Herzfrequenz des Erzählers. Jedes Komma ein Schlag. Eiskalte Sätze, die schwer zu ertragen sind. Und doch kann man nicht aufhören zu lesen. Das liegt nicht am Plot, denn davon gibt es wenig. Was, nein, wer einen nicht mehr loslässt, das ist dieser Protagonist. In Frankreich warf man dem Autor seinerzeit vor, er verschaffe seinen Lesern „das Vergnügen der Identifikation“ mit einem lustvoll mordenden Schützen. Die Kritik geht ins Leere. Niemand wird sich mit diesem geschädigten Beschädiger identifizieren wollen. Aber Mathias Enard macht seine Zerrissenheit nachfühlbar. Das ist keine geringe Leistung.„Setzen wir der Unbeweglichkeit des Hasses die unendliche Hoffnung auf die Sonne der Erkenntnis entgegen“, forderte Enard vor sechs Jahren, als er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt. Der junge Sniper in Der perfekte Schuss ist noch nicht so weit. Der Hass ist wie in Stein gemeißelt und die Erkenntnis noch fern, dass ein Schuss nur dann perfekt ist, wenn er nicht abgefeuert wird.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1