Dichtertreffen in Weimar

Literatur Ein Anfang zur Normalität gesamtdeutscher Autorenbegegnungen
Ausgabe 45/2015

Im Kulturbundclub „Erich Wendt“ und im Deutschen Nationaltheater begegneten sich vom 23. bis zum 25. Oktober bekannte und weniger bekannte ost- und westdeutsche Autoren verschiedener Generationen, unter ihnen Volker Braun, Martin Walser, Arnfried Astel, Rainer Schedlinski, Peter Hamm, Rainer Kirsch, Gisela Kraft, Michael Buselmeier und Joachim Walther.

In einem zweitägigen Literaturmarathon wurde in viertelstündigem Wechsel Prosa, Lyrik und Essayistisches aus der neueren Produktion gelesen. Was man durch einzelne persönliche Besuche partiell schon voneinander wusste, offenbarte sich hier im Überblick.

Die Organisatoren hatten jedoch das Programm dermaßen vollgepackt, weil sie möglicherweise gegenseitige Berührungsängste befürchteten; zum Gedankenaustausch um die vorgestellten Texte blieb offiziell in den ersten beiden Tagen keine Zeit.

Der eigentliche Sinn des etwas hehr betitelten „Dichtertreffens“, übrigens eine erste und zugleich auch letzte Gemeinschaftsaktion des sich auflösenden DDR-Schriftstellerverbandes und des westlichen VS, entzog sich dann auch weitgehend einer journalistischen Sensation und erfüllte sich eher unspektakulär und in erstaunlicher Normalität.

Auf westlicher Seite waren Vorbehalte gegenüber den als privilegiert angesehenen DDR-Autoren zu spüren, auf östlicher Seite gab es Zurückhaltung über DDR-Vergangenes zu spüren, und auch Irritationen unter den Kollegen darüber, was der andere in den letzten Monaten gedacht und geschrieben hat.

Rainer Kirschs eingangs formulierter Wunsch, man möge ohne Verbissenheit und gegenseitige Denunziation gelassen und tolerant miteinander umgehen, wurde erst am letzten Vormittag aktuell, dann nämlich, als man um die Frage stritt „Ende der Utopie?“ Das war dann auch der interessanteste Programmteil.

Auch hier schieden sich die Geister nicht streng nach Ost und West. Besonders die westdeutschen Autoren verstanden sehr Verschiedenes unter Utopie. Schon der Begriff löste heftige Debatten aus. Hält man's nun mit Ernst Bloch, versteht das Nirgendwo oder das ewige Noch-Nicht darunter oder bezieht man sich eher auf Herbert Marcuse oder noch eine andere Variante verbindet man damit doch die Vorstellung konkreter Gesellschaftsmodelle und ist nun enttäuscht von ihrem Scheitern? Der ostdeutsche Essayist Friedrich Dieckman beispielsweise fand die Inflation des Wortes ausgerechnet nach dem Untergang der DDR fragwürdig. Ist Utopie der eigentliche Sinn von Kunst wie Peter Hamm und Joachim Seyppel meinten? Oder geht wirklich ein Gespenst der Utopielosigkeit um in Europa, wie Joachim Walther mit kritischem Unterton anmerkte? Hans Christoph Buch äußerte seine Befürchtung, dass mit der Klage um den Utopieverlust und der typisch deutschen Suche nach neuen Utopien der Marxismus und der in einem Zuge mit genannte Stalinismus fortlebten. Für ihn habe Wulf Kirstens demokratisches Engagement im Weimarer Neuen Forum bei allem politischen Pragmatismus etwas Utopisches. Dem widersprach der VS-Kollege Amfried Astel. Ordnungen zerstören mit künstlerischen oder auch anarchistischen Mitteln, das möge der Literat tun, nicht aber sich mitbeteiligen an einem wie auch immer gearteten Staatswesen.

Auffällig waren dann doch die kritischen Ansprüche und Erwartungen einiger VS-Autoren an die Schriftsteller aus der ehemaligen DDR. Dass auch die bundesdeutsche Realität sich verändern müsse, und die gesamtdeutsche Literatur etwas anderes werden würde als die bisherige westdeutsche, war selten zu hören.

Einen Anfang und einen anregenden dazu hat dieses „Dichtertreffen“ gebracht. Man lernte einander kennen, erfuhr erstmals in so großem Rahmen und ohne institutionalisierten Druck voneinander, erprobte den gegenseitigen Umgang, jetzt, wo man in einem Land lebt. Es war ein erster Schritt hin zur Normalität gesamtdeutscher Autorenbegegnungen. Die Tage in Weimar haben den VS, die zukünftige Berufsorganisation auch der ostdeutschen Schriftsteller in der IG Medien, attraktiver gemacht. Denn hier sollen künftig nicht nur soziale Interessen abgesichert, sondern mehr als zuvor der Gedankenaustausch über Literatur gepflegt werden.

Dieser Text erschien am 9. November 1990 in der ersten Ausgabe des Freitag

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