Wer wird nach dem Rücktritt Annegret Kramp-Karrenbauers Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, Armin Laschet oder Markus Söder? Wird die SPD nun „linker“? Soll die Linkspartei für oder gegen mehr Migration sein? Sind die Grünen schon Volkspartei? Viel Raum füllen diese politischen Debatten seit einigen Jahren. Neue kommen hinzu: Driften die ostdeutschen Landesverbände der CDU in Richtung AfD ab? Was kann die Berliner CDU-Führung dagegen tun? Sind die Vorgänge in Thüringen der Auftakt zu einer offenen Annäherung – in ganz Deutschland?
Der Raum der erstgenannten Debatten war riesig, er wurde nur ungenügend erkundet. Denn jede Partei stand nur für sich unter Beobachtung. Dabei ist ja keine isoliert, jede hat eine Position in der Parteienlandschaft. Man muss sie in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit erfassen. Die letztgenannten Debatten zwingen uns, das endlich ernst zu nehmen. Es spricht einiges dafür, dass wir uns jetzt gerade im Übergang vom alten Parteiensystem, das in Westdeutschland seit dem Zweiten Weltkrieg bestand, zu einem neuen befinden. So ein System pflegt von zwei Leitparteien, die sich bekämpfen – und abwechselnd regieren –, bestimmt zu werden. Politisch charakterisieren kann man es durch das, was die Parteien programmatisch trennt und zu Gegnern macht. Über Jahrzehnte spielte die soziale Frage diese Rolle. Die Unionsparteien einerseits, die SPD andererseits waren die Leitparteien, die das in der Verfassung ungeschriebene Recht der Anführung von Regierungskoalitionen ausübten; Koalitionen mit jenen kleineren Partnern, die um sie herumschwirrten wie Planeten um ihre Sonne, Linkspartei und Grüne auf linker Seite um die SPD, die FDP meist um die Union. Viele Linke gab es in dieser Zeit, die sich über die SPD ärgerten, diese viel zu laue Partei, sie aber doch unterstützen, direkt oder indirekt, weil sie glaubten, dass der Gegensatz von Union und SPD letztlich den von Kapital und Arbeit ausdrücke oder sogar bedeute.
Ökologie und Anti-Ökologie
Das neue Parteiensystem, wenn es sich denn anbahnt, ordnet sich anhand einer anderen zentralen Frage an: jener der Ökologie und, mit ihr, der nachhaltigen Produktionsweise. Das hieße, die Grünen sind nicht bloß erstarkt, sondern die Erstarkung der Grünen wäre Ausdruck einer ganz grundsätzlichen Verschiebung der politischen Logik, nach der das System sich ausdifferenziert. Sie wären eine neue Leitpartei, um die herum sich andere Parteien neu gruppieren müssten. Auch ein anderer Pol hat sich bereits herausgebildet, in Gestalt der AfD. Und mit ihr eine zweite Frage, nach der sich die Parteienlandschaft ausrichtet: jene der Identität, also der Nationalität, der Migration, der Geschlechter und der Lebensweise in den Städten und auf dem Land. Wenn die Grünen für die Ökologie stehen, das heißt unter den derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen: für den grünen Kapitalismus, steht die AfD für Anti-Ökologie – das heißt derzeit: für die Verteidigung des alten, fossil betriebenen Industrie-Kapitalismus. Gleichzeitig stehen die Grünen für flexible Arbeitsmodelle, Digitalisierung und Kosmopolitismus, die AfD für Arbeitsmodelle aus dem Industrie-Kapitalismus, für starre geschlechtliche Identitäten, für Ethnopluralismus. Demnach durchziehen das politische Feld zwei Logiken: die Logik der grünen Produktion und die Logik der Identitätsproduktion, mit jeweils zwei Polen: AfD und Grüne.
Nun darf man sich die Entwicklung aber nicht so vorstellen, dass das neue System das alte restlos vernichtet und ersetzt; vielmehr scheint es das alte System zu überlagern, und jener Kipp-Punkt, den wir womöglich gerade erleben, ist einer des Dominanzwechsels. Welches System sich wie stark durchsetzt, wie stark die Prinzipien der Christ- und Sozialdemokratie also erhalten bleiben, wird auch von der Stärke oder Schwäche von Union, SPD und Linkspartei abhängen. Und die Frage wäre, wie das konkret geschähe, denn es gibt verschiedene, ja gegensätzliche Kombinationsmöglichkeiten. Mit ebendieser Frage müsste an die mutmaßliche Entwicklung der nächsten Zeit herangegangen werden.
Dass die Herausbildung der zwei neuen Pole nicht nur vorübergehend ist, dafür spricht die rasante Entwicklung des Klimawandels. Es ist kein Zufall, dass „Fridays for Future“ und die Grünen jetzt so erstarken. 2018 war sowohl in Deutschland als auch in Skandinavien das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnung. In Deutschland erreichten die Grünen bei der Sonntagsfrage im November 2018 überraschende 23 Prozent. Sicher nicht nur wegen der Sommerhitze, sondern auch aus einigen anderen Gründen, die zuerst ins Auge springen. Das alte System hatte ausgedient, und dennoch hielt Merkel es aufrecht; die SPD entschied, mit dem sinkenden Boot unterzugehen. Gleichzeitig zerrte auch die Anziehungskraft des zweiten Pols an den Parteien. Die AfD erstarkte, die „Unteilbar“-Demo legte die Zerrissenheit der Linkspartei offen. Die Sommerhitze und jetzt auch die „Winterhitze“, wie die FAS am 26. Januar 2020 titelte, spielen aber auch eine Rolle. 2020 gilt in allen Klimaszenarien als das Jahr, in dem umgesteuert werden muss, damit das 1,5-Grad-Ziel noch eingehalten werden kann; vielleicht ist es dafür längst zu spät.
Gleichzeitig beobachten wir Veränderungen in der kapitalistischen Dynamik. Der Fordismus wie auch der finanzmarktgetriebene Postfordismus sind an ihre Grenzen gelangt, und aus Sicht des Kapitals könnte die Klimakrise genutzt werden, um mit dem Green New Deal neue Verwertungsfelder zu erschließen. Dass ein grüner Kapitalismus die Klimakrise lösen kann, darf bezweifelt werden; dass relevante Kapitalfraktionen diesen Weg anvisieren, hat Davos gezeigt, und vom Parteiprogramm der Grünen bis hin zu den Plänen von Ursula von der Leyen weist einiges darauf hin, dass die Politik gewillt ist, diesen Weg zu ebnen.
Die Stärke der AfD wird auch davon abhängen, wie sozial und demokratisch dieser Umbau vonstattengeht; je brachialer und unsozialer er durchgesetzt wird, desto stärker die AfD. Es bleibt jedoch fraglich, ob die Partei langfristig auf der Position der Klimaleugnung beharren kann. Der Rassemblement National in Frankreich etwa propagiert den Klimapatriotismus, und auch in der Jugendorganisation der AfD, der Jungen Alternative, gibt es Bestrebungen, die Klimapolitik ernster zu nehmen und mit rigider Migrationspolitik zu verbinden. Österreich macht es vor: Klima schützen, Grenzen schützen. Faschismus und Ökologie schließen sich nicht gegenseitig aus.
Die Roten in der Zwickmühle
Die anderen Parteien stehen vor der Frage, wie sie sich auf diese neue Konstellation einstellen, wo sie ihre Rolle in dem Gefüge finden. Die Diskussion darüber, ob etwa CSU-Chef Markus Söder „stärker“ ist als Armin Laschet, müsste im Zusammenhang damit diskutiert werden, welche Haltung die Union zur Ökologie entwickelt, wie umgekehrt die Grünen auch deshalb „stark“ sind, weil nun auch ihre Realos laut sagen, sie seien „sozialökologisch“. Söder jedenfalls erklärte die Grünen schon zum Hauptgegner und versucht einen schwarz-ökologischen Turn. Andreas Scheuer, der Verkehrsminister, steht für das alte fossilistische System und muss weg.
In der Haut von SPD und Linkspartei will man derzeit nicht stecken. Anders als im alten Parteiengefüge braucht die SPD keine kleine, radikale Schwester mehr, die Druck auf sie ausübt – sie ist selbst zur kleinen Schwester geschrumpft, kleine Schwester der Grünen, deren Aufgabe es werden könnte, die große Schwester an ihre sozialen Verpflichtungen zu erinnern. Sollten die Grünen mit der CDU koalieren und die Abschaffung von Hartz IV nicht durchsetzen, werden sie links wieder mehr Raum lassen. Ob er von Linkspartei oder SPD gefüllt wird, wird sich zeigen. Auch wenn Grün-Schwarz derzeit realistischer scheint: Nach dem Programm, das sich die Grünen zuletzt gegeben haben – massive öffentliche Investitionsprogramme, mehr Regeln für Unternehmen, soziales Wohnen, ökologischer Korporatismus –, müssten sie eigentlich Grün-Rot-Rot anstreben. Daraus kann jedoch nur dann etwas werden, wenn SPD und Linke sehr viel mehr Wählerinnen gewinnen. Das aber ist keine Frage des Personals.
Formal hat die Linkspartei in ihrem Klima-Aktionsplan Vorschläge gebracht, die am weitesten gehen. Doch noch immer überwiegen in ihr die Stimmen, die das Soziale gegen das Ökologische ausspielen. Was herauskommt, ist Stillstand: Die strittigen Punkte im Klima-Aktionsplan wurden verschoben. Natürlich, denn egal, wie man sich entscheidet, man verliert Wähler an den einen oder anderen Pol. Sobald sie sich stärker auf die ökologische Politik einlassen, verlieren sie jene Klientel, die ihre industriearbeiterlichen Interessen vertreten sehen will; lassen sie sich stärker auf die Interessen von Auto- oder Kohlearbeitern ein, verlieren sie ökologisch Interessierte, insbesondere, da diese Fragen jeweils mit identitätspolitischen Fragen wie Arbeitskultur, geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Migration verbunden werden. Das neue Parteiensystem bringt die Linke wie die SPD notwendigerweise in die Zwickmühle.
Wo aber ist im neuen System der Ort für linken Antikapitalismus? Es könnte der Bedarf an ökologischer Radikalität entstehen, ohne dass dabei an Sozialismus gedacht wird. Wenn die Grünen regieren und entweder von der CDU oder von SPD und Linken als Koalitionspartnern im ökologischen Umbau gebremst werden, gibt es keine Partei, die die dann ökologisch gemäßigten Grünen in dieser Frage vor sich hertreiben könnte. Diese Rolle übernehmen derzeit außerparlamentarisch die „Fridays for Future“. Vielleicht werden sie die neue kleine, radikale Schwester der Leitpartei, der Grünen. Was wird dann aus der Linken? Gibt es das Potenzial zur Entwicklung einer klimasozialistischen Utopie – und wenn ja, wo?
Faschistoider Bürgerblock?
Die AfD hatte in Thüringen ihren bisher stärksten Auftritt. Mit der neuen Polarität des Parteiensystems scheint das auf den ersten Blick wenig zu tun zu haben, doch der Schein trügt. Von fünf Landtagswahlen seit 2018, als sich die Klimakrise beschleunigte, haben zwei gezeigt, dass die Unionsparteien in Versuchung sind, mit der AfD gemeinsame Sache zu machen. In Bayern versuchte 2018 der damalige CSU-Chef Horst Seehofer mit rechtspopulistischen Schachzügen, aus seiner Partei die bessere AfD zu machen. Die Folge war, dass viele CSU-Wählerinnen zu den Grünen überliefen, und so musste Seehofer die Parteiführung an Söder abtreten, der nun die entgegengesetzte Strategie versucht: als der bessere Grüne zu erscheinen. In Sachsen hat der CDU-Ministerpräsident seit 2019 nur durch die Grünen noch eine Mehrheit. In Brandenburg hätte man es lieber gesehen, sie hätten die dortige SPD gehindert, die Linke als Koalitionspartner gegen die CDU auszutauschen, aber so ist zumindest die Unionsneigung, sich der AfD anzunähern, gestoppt. Vorerst.
Das können wir verallgemeinern. Denn wo der grüne Kapitalismus in großen Teilen der Bevölkerung auf Widerstand stößt, dort ist die CDU geneigt, sich dem anderen Pol zu nähern. Mögen die Grünen im Westen stark, im Osten schwach sein, überall sind sie unverzichtbar dafür, die Abwehrkräfte der Union gegen die AfD zu stärken. Es zeigt sich, dass schwarz-grüne Koalitionen auch diese Funktion haben: der Entstehung eines faschistoiden „Bürgerblocks“ entgegenzuwirken.
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