Die Aufgabe der Stunde

Vision Um als politisches Projekt zu überleben, muss Europa sich wandeln. Eine europäische Republik könnte die Lösung sein
Ausgabe 24/2016
Europa braucht so vieles – nur keinen Brexit
Europa braucht so vieles – nur keinen Brexit

Montage: der Freitag; Fotos: GVS+Arochau/Fotolia

"Selbst ein knappes Ja zum Verbleib kann nicht bedeuten, dass alles in der EU so bleiben kann, wie es ist." Dieser Satz sagte noch einige Tage vor dem Referendum niemand Geringeres als Wolfgang Schäuble. Mehr oder weniger EU, in or out, diese Fragen waren also gestern. Jetzt stellen sich andere: In welchem Europa jenseits der EU wollen wir leben? Und wie schaffen wir ein demokratisches und soziales Europa, das grundsätzlichen demokratietheoretischen Ansprüchen genügt? Denn die EU tut das nicht. Aber von Europa, dem Kontinent, auf dem wir alle leben, weglaufen können wir auch nicht. Die Frage ist also die nach einer veritablen postnationalen Demokratie in Europa.

Die Frage sollte schnell beantwortet werden, denn der Ruf nach nationalen Referenden und Austritten wird nach der Brexit-Entscheidung noch lauter. Wie das Pew Research Center vergangene Woche bekannt gab, ist die Zustimmung zur EU drastisch gefallen. Spitzenreiter sind die Griechen mit 71 Prozent Ablehnung. Aber auch europaweit liegt die Zustimmung zur EU im Durchschnitt unter 50 Prozent. Die Desintegrationstheorie lehrt uns, dass politische Systeme, sind sie erst einmal ins Rutschen gekommen, schneller einstürzen, als man gemeinhin denkt. Wendet man das auf die EU an, kann einem bange werden.

Ulrike Guérot, geboren 1964, ist Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance in Berlin. Von ihr ist gerade Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie erschienen

Foto: C. Butzmann

Das britische Referendum ist da nur der Katalysator. Faktisch ändert die Abstimmung wenig. Die negative Symbolwirkung eines Neins ist viel größer als die realen Konsequenzen. Der Eurostar wird auch am 24. Juni durch den Tunnel fahren, Erasmus-Studenten in Großbritannien werden nicht des Landes verwiesen. Was britischen Beamten Kopfschmerzen macht, ist die Frage, wie man Großbritannien trotz eines Brexits in den EU-Regulierungen behält, dafür aber bilaterale Verträge mit 27 EU-Mitgliedsstaaten abschließen muss.

Verlassen wir die trügerische Dichotomie eines in or out. Was wäre, wenn man den Kritikern der EU einfach mal zuhört, die hinter Ukip stehen, der Partei für die britische Unabhängigkeit? Was nämlich moniert Parteiführer Nigel Farage, der nach eigenem Bekunden nicht gegen Europa, wohl aber gegen die EU ist? Dass er in der EU nichts zu sagen hat. Und damit hat er – leider – Recht! Herr Farage sagt damit im Grunde nichts anderes als so ziemlich alle Sozial- und Politikwissenschaftler in Europa, die der EU fast unisono ein eklatantes Demokratiedefizit attestieren.

Nur die Staaten zählen

Im Maastrichter Vertrag wurde geregelt, dass die EU zugleich Bürgerunion und Staatenunion ist. De facto ist die EU aber nur Staatenunion. Die EU-Bürgerschaft ist keine unmittelbare, sondern eine nachgeordnete. Sie ist an die jeweilige Staatsbürgerschaft gekoppelt. Verlässt ein Staat die EU, sind die Bürger dieses Staates, in diesem Fall die Briten, auch keine Unionsbürger mehr. Sonst wäre ein Brexit egal: Das United Kingdom als Staat könnte die EU verlassen, aber die Briten wären weiter europäische Bürger. Anders formuliert: Die Bürger sind in der EU nicht der Souverän. Sie haben nichts zu sagen. Denn nur die Staaten zählen in der EU. Sie entscheiden im Europäischen Rat. Und gegen diese EU-Ratsentscheidungen kann das Europäische Parlament, das ohnehin kein Legislativrecht hat, praktisch nichts tun; die nationalen Parlamente aber auch nicht.

Staaten aber, man kann es nicht oft genug wiederholen, sind nicht der Souverän. Alle Souveränität geht vom Volke aus und – so möchte man spöttisch mit Tucholsky sagen – kommt so schnell nicht wieder. Merkels Diktum der Eurokrise „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ gehört umgekehrt: „Bleiben Binnenmarkt und Euro wie sie sind, scheitert die europäische Demokratie.“ Genau das erleben wir gerade!

Denn in jeder normalen Demokratie können Bürger opponieren und eine Regierung, die ihnen nicht passt, abwählen. In der EU können sie das nicht – oder nur sehr indirekt. Zumal es in der EU gar keine Regierung gibt, sondern nur eine Kommission. Die zudem Hüterin der Verträge sein, also eine neutrale Schiedsrichterfunktion haben soll, was normalerweise die Aufgabe eines höchsten Gerichtshofes ist. Kurz: In der EU gilt das Prinzip der Gewaltenteilung nicht, in dem eine Legislative eine Exekutive wählt, kontrolliert von einer Judikative. Trotzdem entscheidet die EU über viele Dinge, die sich unmittelbar auf den Lebensalltag aller Europäer auswirken.

Intelligenterweise hat man die EU darum sui generis genannt, übersetzt: „aus sich heraus“. Ein Begriff, der sich heute noch in jedem EU-Lehrbuch findet und der davon entledigt, die EU weiter erklären zu müssen, weil sie so ist, wie sie ist. Jetzt ist aber der Demokratie-Schwindel augenfällig. Nigel Farage oder Marine Le Pen reißen der EU die Kleider vom Leib und siehe da: In der EU sind die Bürger nicht der Souverän.

Die Lösung dieses Problems wäre die Schaffung einer konsequent postnationalen Demokratie in Europa, damit der Euro als Währung wieder in demokratische Strukturen eingebettet wird. Und damit Markt und Staat, die durch den Maastrichter Vertrag entkoppelt wurden, auf europäischer Ebene wieder zusammengefügt werden. Das wird oft als Utopie abgetan, ist aber eigentlich eine Binsenweisheit: Wir brauchen in Europa eine Demokratie, die den demokratietheoretischen Erfordernissen entspricht, die uns die großen europäischen Denker mitgegeben haben. Diese sind allen voran der allgemeine Grundsatz der politischen Gleichheit aller Bürger und das Prinzip der Gewaltenteilung.

Gleichheit aller Bürger

Aus dem allgemeinen Grundsatz der politischen Gleichheit – nämlich dass die Bürger gleich sind vor dem Recht, bei Wahlen, bei Steuern und beim Zugang zu sozialen Rechten – ergäbe sich zum einen ein komplett neu gestalteter europäischer Parlamentarismus, der dem Prinzip „eine Person, eine Stimme“ genügen und die heutige nationale Proportionalität im Europäischen Parlament in eine zweite Kammer verlagern würde. Aus dem Prinzip der Gleichheit vor dem Recht ergäbe sich ferner, dass wir als europäische Bürger nicht andauernd ob unserer (nationalen) Rechte gegeneinander ausgespielt werden, also als europäische Bürger im „nationalen Container“ (Ulrich Beck) verharren müssen, während die Unternehmen fröhliches Steuer- und Lohnhopping machen können. Aus dem gleichen Zugang zu sozialen Rechten ergäbe sich schließlich eine europäische Arbeitslosenversicherung – Vorschläge, die bereits auf dem Tisch liegen.

Wann immer sich Bürger, so lehrt es die Ideengeschichte, zu einem politischen Projekt zusammengeschlossen haben, haben sie eine Republik gegründet. Keiner der alten Traktate verlangt dabei, dass diese Republik ethnisch konturiert sein muss. Dass es ein „nationales Staatsvolk“ geben muss. Eine Republik beruht lediglich auf dem Grundsatz der politischen Gleichheit. Sie ist damit die perfekte Gussform für ein postnationales politisches Projekt in Europa, das Gleichheit mit kultureller Vielfalt vereinen kann. Die Europäische Republik ist die politische Aufgabe der Stunde. Die Errungenschaft der französischen Revolution war politische Gleichheit jenseits von Klassen. Die friedliche europäische Revolution müsste ein demokratisches Europa schaffen, in dem die Bürger politisch souverän und als souveräne Bürger gleichgestellt sind. Das ist alles. Und es ist eigentlich nicht so schwer.

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