Hitler hieß einmal Oliver und war der Jugendfreund von Mimi Schulz. Damals. In der kleinen Stadt an der Havel, in der Mimi 1974 geboren wurde und aufwuchs. Eine idyllische Welt. Der Vater ist Verkaufsstellenleiter, die Mutter Pionierleiterin, später stellvertretende Schuldirektorin. Mimi erlebt Familienfeste, bei denen Opa vom Krieg erzählt und Oma im Sitzen einschläft (mit Torte am behaarten Kinn). Sie trägt das Halstuch der Pioniere und macht mit bei der Klassenkloppe, die die Schwachen und auch ihre Freundin trifft. Sie glaubt an die lichte Zukunft mit vereinigten Proletariern aller Länder und beklebt die Wände ihres Kinderzimmers mit Bravo-Postern von Depeche Mode und Michael Jackson. Sie sieht die triste Endphase des Staatssozialismus und die bunten
die bunten Versprechen der neuen Ordnung. Und sie muss erfahren, wie der einstige Jugendfreund Oliver eine ganz andere Richtung einschlägt, zum Nazi wird, während Mimi mit Punks und Hippies nach alternativen Lebensformen sucht.Manja Präkels’ Debüt Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß ist ein Roman, der von der Vergangenheit erzählt. Und dabei in unsere Gegenwart führt. Denn er zeigt, wie aus Kindern der DDR ganz verschiedene Menschen wurden.Schon der Auftakt des Romans folgt bekannten Mustern. Mimi kehrt an die Schwemmwiesen ihrer Kindheit zurück; dort, wo früher der Rummel war und jetzt eine Tankstelle ist. Statt Los-Buden und Karussell gibt es nun Bier und Zigaretten. Hier treffen sich die Jugendlichen .Frühschoppen, früherIm Haus ihrer Eltern erinnert sich die Ich-Erzählerin an ein Früher und Damals: Das Familienleben in der Havelstraße, eng aufeinander; Frühschoppen und Fußballverein des Vaters, der in der dritten Kreisklasse spielt; Fahnenappelle und Pioniergeburtstag. Vor allem erinnert sich Mimi an den Freund Oliver. Zwei Jahre älter als sie, ist er ebenfalls ein verschlossener Einzelgänger und bringt ihr bei, nicht alles laut auszusprechen und im richtigen Moment zu fragen. Olivers Vater ist ein kräftiger Mann, seine schaufelgroßen Hände werden vom Sohn gefürchtet. Deshalb muss Mimi Schmiere stehen, wenn er die Zigaretten raucht, die ihm seine Mutter zugesteckt hat. In Olivers winzigem Zimmer liegen Mimi und er nebeneinander und essen während der immerwährenden Familienfeiern heimlich Schnapskirschen, die er aus der mütterlichen Vorratskammer geraubt hatte.Schon frühzeitig zeigen sich Risse in der scheinbaren Idylle. Denn die großen Versprechen sozialer Gleichheit und gesellschaftlichen Fortschritts sind zu Phrasen verkommen. Deren Kollision mit der Wirklichkeit muss auch Mimi erfahren. Während in der Schule die Losungen aus dem Kommunistischen Manifest prangen, erzählt ihr Freund Oliver, dass die schuftenden Werktätigen in den Ziegeleien des kleinen Ortes von der Partei der Arbeiterklasse ausgebeutet werden. Während ihre linientreue Mutter ebenso wie die anderen Lehrer die offizielle Doktrin von der ewigen Freundschaft zur ruhmreichen Sowjetunion verkündet, erlebt Mimi im Alltag den tiefsitzenden Hass gegen die „Russenschweine“, die in ummauerten Kasernenstädtchen leben und trotz vereinzelter Begegnungen fremd bleiben. Unter der Oberfläche der erodierenden DDR-Gesellschaft schwären Nationalismus und Rassismus – noch bevor die Mauer fällt.Manja Präkels’ Roman macht diese Veränderungen an kleinen Beobachtungen fest. Die 16-jährige Mimi sieht im Fernsehen den Bundeskanzler: „Helmut Kohl betrachtete uns aus Augen, die ganz rund und fröhlich sein konnten, wenn sie unter langen, weichen Wimpern hervorblinzelten, sich hingegen zu kleinen Schlitzen verengten, kalt und überheblich, wenn er von seinen Gegnern sprach.“ Sie registriert die Ratlosigkeit der Eltern und die Verdrängung von Hofbesitzern durch Alteigentümer. Und sie erlebt die Verwandlung der Jungen in kahl rasierte Schläger: „Ihre Führer galten als die neuen Sexsymbole einer ganzen Generation, die meine war.“ Die schlimmste Metamorphose macht ihr ehemaliger Jugendfreund durch. Aus dem schweigsamen Oliver wird Hitler. Als Führer der örtlichen Neonazis bringt er den Drogenmarkt unter seine Kontrolle, lässt Minderjährige in fremde Wohnungen einbrechen und Angehörige der Russenmafia auf Konkurrenten los. Seine Anhänger gehen mit Baseballschlägern und Springerstiefeln gegen alle vor, die anders sind: Hippies und Punks, vietnamesische Zigarettenverkäufer und Homosexuelle werden ihre Opfer.Die im Text geschilderten Gewalttaten sind schwer erträglich. Die lähmende Angst, die sich auf das Städtchen und seine Einwohner legt, lässt sich nachvollziehen.Schwerer nachvollziehbar ist der fast vollständige Ausfall von Gegenwehr. Mimi und ihre Freunde organisieren zwar ein Fest „Schrei in den Mai“ und werfen auch einmal Molotow-Cocktails auf einen Nazi-Treff. Doch zumeist sind sie – wie schon ihre Eltern – mit der Konsumtion alkoholischer Getränke beschäftigt. Bier und Kognak, Kirschlikör und Pfefferminzschnaps: Schauerlicher Höhepunkt ist schließlich das gemeinsame Besäufnis mit Nazis, die mit einer Flasche Korn bei den „Zecken“ einkehren und prahlen: „Ham heut Neger aufgeklatscht. Am Bahnhof. Oburg. War das geil!“ Timo, einer der anwesenden Antifaschisten, ballt zwar unter dem Tisch die Fäuste. Doch vor Angst kann er sich nur noch Pfefferminzlikör in ein Bierglas schenken und es in einem Zug leeren. Freund Zottel dreht einfach die Musik lauter. Eines Tages eskaliert die Situation vollends.Was die Ich-Erzählerin des Romans in Episoden ausbreitet, gehört zu den Versuchen, den epochalen Umbruch in der Welt zwischen Elbe und Oder in seinen Voraussetzungen und Konsequenzen zu vermessen und an individuellen Schicksalen mit exemplarischer Prägnanz darzustellen. Das Spektrum dieser Unternehmen ist inzwischen vielfältig; zu ihnen gehören Jana Hensels Bestandsaufnahmen Zonenkinder ebenso wie der detailbesessene Turm-Roman von Uwe Tellkamp (dessen Fortsetzung noch immer auf sich warten lässt), aber auch die Erzählwerke von André Kubiczek und Ingo Schulze. Dessen gerade erschienener Roman Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst spannt mit der Zeit von 1974 bis 1998 einen historischen Rahmen auf, der sich mit der erzählten Zeit in Manja Präkels’ Roman annähernd deckt. Doch die hier gewählte Perspektive, die mit dem Gattungsbegriff „Schelmenroman“ eher notdürftig umschrieben wird, hat mit den existenzbedrohenden Erschütterungen im Havel-Flachland nur wenig zu tun: Während das Waisenkind Peter Holtz materiellen Besitz und Geld verachtet und mit weltfremden Fragen die Diskrepanzen zwischen hehren Idealen und materiell interessierter Wirklichkeit freilegt, sucht das Familienkind Mimi in den sozialen Auflösungsprozessen der Wende- und Nachwendezeiten hilflos nach Geborgenheit. Und während Peter Holtz so reich wird, dass er schließlich 1.000-DM-Scheine verbrennen muss, um sich auf ironisch-subversive Weise von den Symbolen des Kapitalismus zu befreien, lösen sich Familienstrukturen und Freundschaftsbeziehungen in Mimis Havelstadtheimat ebenso auf wie einstige Überzeugungen: Die Mutter von Mimi Schulz, die auch unter den neuen Bedingungen weiter an der einstigen Karl-Marx-Schule unterrichten darf, kann sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass der Gedenkstein für den Namensgeber einstmals seine Jahreszahlen trug. Mimi aber kehrt noch einmal um und entdeckt die Löcher im Stein: dort, wo die Zahlen 1818-1883 angebracht waren, zwei Löcher für die Metallstifte.Elbe, Oder, AlkoholIn der Zielstellung, die tiefgehenden Prozesse sozialer Polarisierung zu beschreiben und zu erklären, trifft sich die Autorin mit dem französischen Intellektuellen Didier Eribon, dessen Rückkehr nach Reims einen beeindruckenden Versuch darstellt, die Verwerfungen der französischen Gesellschaft zu erfassen und zu verstehen. Auch Eribon kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück, den er verließ, um nach Paris zu gehen und sich dort intellektuell wie sexuell zu emanzipieren. In der heimatlichen Provinz muss er nun entdecken, dass die vormals kommunistisch eingestellten Menschen seiner Heimatstadt rassistischen Ressentiments folgen und für den Front National votieren.Manja Präkels’ Buch über ihre Heimatstadt in der ostdeutschen Provinz hätte ein solches Buch werden können. Denn die Autorin – die mit ihrer Hauptfigur nicht nur den Geburtsjahrgang, sondern auch die spätere Tätigkeit als Lokalreporterin bei einer Brandenburger Zeitung teilt – hat wohl mehr erfahren, als es die Absolventen der deutschen Literaturinstitute gewöhnlich tun. Sie weiß, wie die von Eltern und Großeltern weitergegebenen Einstellungen subkutan wirken und die nachwachsenden Generationen prägen; nicht zufällig ist schon Olivers Großvater Fritz als Nazi bekannt. Doch in der Konzentration auf die Geschichte der Mimi Schulz und den Alkoholkonsum ihrer Freunde vergibt sie diese Chancen. Schade eigentlich.Placeholder infobox-1Placeholder infobox-2Placeholder authorbio-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.