Iin Stig Björkmans Dokumentarfilm Ich bin Ingrid Bergman (2015) hört man die legendäre schwedische Schauspielerin an einer Stelle beklagen, dass Frauen in der Filmbranche immer versuchen müssten, möglichst lang jung und schön auszusehen. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1978, nahe dem Ende von Bergmans Karriere – und ihrem Leben, sie starb 1982 mit nur 67 Jahren. Unter der Regie von Ingmar Bergman drehte sie damals ihren letzten Kinofilm Herbstsonate. Und im gleichen Kontext berichtet sie, wie viel Mut es sie gekostet habe, sich dafür ohne Make-up und in Nahaufnahme auf der Leinwand so zu zeigen, wie frau eben mit 63 Jahren aussieht.
Bergmans Äußerungen liegen mittlerweile gut 40 Jahre zurück, geändert hat sich wenig. Während
hat sich wenig. Während sexualisierte Gewalt und strukturelle Diskriminierung von Frauen seit #MeToo immerhin einiges an Aufmerksamkeit erfahren, sind Rollen für Frauen über 40 noch immer dünn gesät. Und sie werden mit fortschreitendem Alter sogar noch seltener. Auf Männer traf und trifft das nicht zu. Sie gelten mit grauen Haaren als distinguiert, erfahren, weise. Falten stehen bei ihnen für gelebtes Leben, bei Frauen sind sie ein Makel. Und wenn es dann noch um Sexualität geht – Bergman sprach ja „nur“ von ihrem Gesicht, nicht vom weiblichen nackten Körper –, kommen Frauen nach der Menopause im Film schlicht nicht vor.Sophie Hydes Film Meine Stunden mit Leo, der im Januar 2022 beim Sundance Festival Premiere feierte, stellt hier eine Ausnahme dar und ist ein mutiger, ja notwendiger Tabubruch. Die britische Schauspielerin Emma Thompson, Jahrgang 1959, ist heute ziemlich genauso alt, wie Ingrid Bergman beim Erscheinen der Herbsonate war. Thompson spielt in Meine Stunden mit Leo die verwitwete Nancy, die nach einer jahrzehntelangen, unbefriedigenden Ehe endlich sexuelle Erfüllung sucht. Ihr verstorbener Gatte war der einzige Mann, mit dem sie je geschlafen hat. Einen Orgasmus hat sie nie erlebt, weder mit ihm noch durch Masturbation. Sie ist also sexuell unerfahren, daher gehemmt und schätzt ihre Chancen bei der Partnersuche „in der freien Wildbahn“ als gering ein. Außerdem hat sie an alten Männern auch kein erotisches Interesse. Ihre einzige Option sieht sie mithin darin, einen jungen Callboy zu buchen. Im Internet stößt sie dabei auf Leo (Daryl McCormack).All das erfahren wir erst im Verlauf des kammerspielartigen Films (gedreht wurde mit sichtlich kleinem Team während der Pandemie), der mit dem ersten Treffen der beiden in einem Hotelzimmer beginnt. Leo, etwa halb so alt wie Nancy, versucht mit sehr viel Einfühlungsvermögen eine Atmosphäre zu schaffen, in der sie sich entspannen kann. Unter der klugen Regie von Sophie Hyde hat diese Begegnung nichts Schlüpfriges. Obwohl hier viel und offen über Sex gesprochen wird, zieht sich die Kamera diskret zurück, wenn die beiden zum ersten Mal miteinander schlafen.Bei den nächsten Treffen entstehen lustige, dramatische, aber auch erotische Momente zwischen ihnen. Nancys Verkrampftheit, etwa wenn sie ihre persönliche Bucket List mit sexuellen Praktiken wie ein Curriculum abarbeiten möchte (Blowjob, Oralsex, 69, Doggy Style), sorgt für Comic Relief. Die Dialoge kreisen immer wieder um „Sexpositivity“. Um Nancy zu beruhigen, erzählt Leo ihr beispielsweise von den Vorlieben anderer Klient*innen und zeigt auf anrührende Weise, wie individuell und vielseitig sexuelle Vorlieben und Bedürfnisse sind. Ein Plädoyer dafür, dass sexuelle Freiheit nur an den Grenzen des Komfortbereichs der jeweils involvierten Menschen enden sollte.Regeln statt TabusDie Handlung verläuft aber nicht ganz ohne Drama, denn selbst in einer reinen Geschäftsbeziehung wie der zwischen Nancy und Leo entwickeln sich Konflikte. Nancy muss lernen, dass es bei konsensuellem Sex zwar keine Tabus gibt, aber Regeln und Grenzen, die es zu respektieren gilt. Hinter Leos Fassade des perfekten Liebhabers verbergen sich Ängste und Verletzungen.Eingebetteter MedieninhaltDas Thema Sexarbeit wird dabei nur kurz problematisiert. Nancy hadert mit käuflichem Sex, Leo versucht sie damit zu beruhigen, dass er nicht sich, sondern eine Dienstleistung verkaufe. Er versichert, er fühle sich nicht ausgebeutet und liebe seinen Job. Allerdings dürfte sich sein Arbeitsalltag deutlich von Zwangsprostitution auf dem Straßenstrich oder im Bordell unterscheiden, was im Film jedoch nur kurz angerissen wird. Prostitution ist hier aber auch nicht das Thema. Es ist nur der narrative Kniff, den Katy Brands cleveres Drehbuch nutzt, um weibliches Begehren im Alter in den Fokus zu rücken, um das Thema Lust von den Mechanismen einer Beziehung zu entkoppeln und eben keine romantische Komödie abzuliefern. In Meine Stunden mit Leo geht es in erster Linie um eine Frau, die Sex mit einem jungen Mann erleben will.Mit der allerletzten Einstellung – eine nackte Emma Thompson betrachtet sich selbst im Spiegel – empfiehlt sich Meine Stunden mit Leo schließlich als einer der konsequentesten Filme zum Thema, die je gedreht wurden – und Emma Thompson als mutigste Schauspielerin ihrer Generation. Gäbe es im Kino mehr davon, der weibliche Körper im Alter wäre längst kein Tabu mehr.Placeholder infobox-1