Erdbeeren ohne Reue

Kommentar Europäische Pestizidverordnung: Schluss mit dem Giftcocktail im Essen und in der Umwelt

Auf der Agenda des Europäischen Parlaments steht mit der Neuordnung der Pestizid-Zulassung dieser Tage wieder einmal der Verbraucherschutz auf dem Spiel, und die Fronten erinnern an die europäische Chemikalienpolitik: Wieder einmal betreibt die Chemieindustrie Fundamentalopposition gegen jegliche Veränderung und versucht, die Vorschläge der EU-Kommission zurückzuschrauben. Neu im Boot ist diesmal der deutsche Bauernverband. Zusammen malen sie den Teufel an die Wand und warnen vor Nahrungsmittelknappheit und ungeahnten Resistenzen, als ob Europa durch die neue Pestizidgesetzgebung die nächste Hungersnot ins Haus stünde. Pestizide sind ein lukratives Geschäft, und dass lässt sich niemand gerne verderben. In Europa wird ein Viertel aller Pestizide weltweit ausgebracht, bei gerade mal vier Prozent der Landwirtschaftsfläche; pro Jahr knapp 300.000 Tonnen.

Den überfälligen Schutz der Menschen vor den gefährlichen Spritzmitteln lässt die Chemie- und Agrarlobby dabei völlig unter den Tisch fallen. Dabei gilt diesem, so hat eine repräsentative Untersuchung jüngst gezeigt, die größte Sorge der europäischen Verbraucher. Den Genuss leckerer Erdbeeren beispielsweise würden sie sich vielleicht zwei Mal überlegen, wenn ihnen bewusst wäre, dass wie in unserem Supermarkt im Europäischen Parlament Erdbeeren mit 14 Pestiziden behandelt wurden und sehr häufig die zulässigen Höchstmengen überschreiten.

Es war meiner Meinung nach längst überfällig, dass Pestizide, die krebserregend, erbgut- und fortpflanzungsschädigend sind, europaweit verboten werden. Die Schädigung beginnt schon im Mutterleib: so steigt die Rate der Frühgeburten um 120 Prozent, wenn Frauen im Umkreis von 1,5 Kilometern um Bauernhöfe leben. Der Umweltwissenschaftler Philippe Grandjean hat vor kurzem eine Liste von 202 Chemikalien vorgelegt, die unwiderruflich das Nervensystem schädigen. Auf der Schwarzen Liste stehen 90 Pestizide, die bei Kindern den IQ senken. Das Gehirn ist aber nicht ersetzbar. Es gibt Warnungen, dass Pestizide noch in der dritten Generation Krebs und Leberschäden verursachen, wenn die Urgroßmutter zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der weibliche Fötus in der Ovarienbildung befindet, Kontakt mit Pestiziden hatte. Und laut einer Harvard-Studie haben Menschen, die entweder als Bauer oder sogar im Haushalt mit Pestiziden in Kontakt geraten, ein um 70 Prozent höheres Risiko, an Parkinson zu erkranken.

Es ist ein Meilenstein, dass sich das Europaparlament bei seiner Abstimmung in erster Lesung diese Woche nicht von der Panikmache der Industrie hat anstecken lassen und fraktionsübergreifend klar dem Umwelt- und Verbraucherschutz Vorfahrt gegeben hat. Die Blockadestrategie der Industrie ist dieses Mal glücklicherweise ins Leere gelaufen.

Nun soll es zunächst ein ganz eindeutiges Zulassungsverbot für krebserregende, erbgut- und fortpflanzungsschädigende Pestizide geben. Aber auch Wirkstoffen, die gefährlich für das Immun- oder Nervensystem sind und das Hormonsystem negativ beeinflussen, wird die Rote Karte gezeigt. Der Pestizid-Pass ist ein erster Durchbruch in Richtung Verbrauchertransparenz, weil damit Pestizide entlang der Lebensmittelkette zurück verfolgt und Verstöße geahndet werden können. Einziger Wermutstropfen: Das Informationsrecht für die Anwohner wurde im Grundsatz zwar verankert, die Entscheidung, ob die Menschen tatsächlich informiert werden, bleibt aber den EU-Mitgliedsstaaten überlassen.

Dennoch: Mit der Abstimmung hat das Europaparlament der Industrie die Stirn geboten und die längst überfälligen Verbesserungen zum Schutz der Menschen vor Giftcocktails auf den Weg gebracht. Die Bundesregierung kann bei den anstehenden Verhandlungen unter Beweis stellen ob sie bereit ist, dem Verbraucher- und Umweltschutz Priorität einzuräumen.

Hiltrud Breyer ist Abgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen im Europaparlament und im Ausschuss für Umweltschutz, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.


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