Fischfang im Tugendbottich

Staatsaufsager Bundeskanzlerin und Bundespräsident beschworen angesichts des kommenden Krisenjahres den Gemeinsinn der Deutschen. Dabei ist er schon jetzt grenzenlos vorhanden

Zum Jahreswechsel 2008/2009 wurde wieder viel Gutes in die Menschen hinein geträufelt. Die politischen Verantwortungsträger taten sich besonders hervor und alles, damit Deutschland sitten- und wetterfest über den Krisenwinter kommt. Aufschlussreich und nicht weiter überraschend, dass sich Bundespräsident und Kanzlerin bei ihren Weihnachts- beziehungsweise Neujahrsansprachen dem Abfischen im Tugendbottich hingaben. Was ihnen vor laufenden Kameras ins Netz ging, sah nach Graubrot, Haferflocken, Malzkaffee und Scheuersand aus und nannte sich "Gemeinsinn", "Gemeinschaftswerk" und "gemeinschaftliche Anstrengung". Da war er also wieder, der Wertebaukasten als Fundgrube fürs nationale Eigenheim. Mit Bastelspaß gegen die Krise! Besonders die Vergatterung zu mehr "Gemeinsinn" erlebte bei Merkel und Köhler ein fulminantes Konjunkturwunder. "Dieser Gemeinsinn kann uns jetzt überall voranbringen", predigte die Kanzlerin. Deutschland habe "schon ganz andere Herausforderungen gemeistert".

Das planmäßig verwickelte System des Spätkapitalismus tritt also in sein vorerst letztes Stadium: das der Kindergärtnerei und Götzenbeschwörung. Und Frau Puppendoktor Pille hat immer das richtige Rezept parat. Vorbei die Veitstänze und Individualitätsschübe karrieregeiler urbaner Coffee-to-Go-Hedonisten, die in dem Wahn lebten, allein ihres Glückes Schmied zu sein. Eine vom Ernst der Stunde beseelte Menschengemeinschaft schart sich verklärten Blicks um den nationalen Opferstock. Unterhaken, Schulterschluss, Näschenreiben und Kuscheleinheiten werden zur Staatsdoktrin. Du bist Deutschland! Also halte dich dran. Schließlich soll es der Spaßgesellschaft weiter Spaß machen. Passend dazu war Merkels Neujahrsansprache eine gekonnt skurrile Parodie auf die Figur der wohltätigen Gouvernante, die einem Grundkurs für Tagesmütter entkommen schien.

Merkel vergaß freilich, in ihren fünf bis sechs Minuten Staatsaufsager wenigstens mit einem Satz zu erwähnen, dass knapp sechs Millionen Menschen, denen die Arbeitsmarktreformen ein Überwintern in prekären Beschäftigungen und dank eines Einkommens jenseits des Existenzminimums soziales Siechtum beschert haben, bereits jetzt ein Hohelied auf den ihnen zuteil gewordenen Gemeinsinn anstimmen. Warum werden sie nicht zu Kronzeugen der Bewegung um mehr Mitmenschlichkeit ernannt?

Merkel ersparte es sich auch, die rührende, an Selbstverleugnung grenzende Enthaltsamkeit der Banken zu loben, die ihren Gemeinsinn anmutiger denn je unter Beweis stellen: Sie verweigern Kredite ganz oder verteuern sie über Gebühr (obwohl doch die Notenbanken die Leitzinsen schon bis unter die Schmerzgrenze gesenkt haben). Unternehmen, die frisches Geld brauchen, um gerade jetzt über die Runden zu kommen, wissen diesen Ausbund an Miteinander und Füreinander gewiss zu schätzen. Viele sehen darin eine Gegenleistung zu den 480 Milliarden Euro, mit denen Millionen Steuerbürger im Oktober zu verstehen gaben, dass ihr "Gemeinsinn" aber wirklich gar keine Grenzen mehr kennt. Auch wenn es da einen Hauch von Egoismus und Eigensinn gab, weil viele Geldinstitute durch diesen Großmut um ihre Verschrottungsprämie gebracht wurden.

Vor genau einem Jahr jedenfalls hatte uns Angela Merkel in der Silvesterrede des Jahrgangs 2007 mit kokettem Blick aufgefordert: "Überraschen wir uns, was möglich ist." Sie hat Wort gehalten.

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