Freiwilliger Rückzug

Im Gespräch Heidi Gellhardt, Projektleiterin bei "Kumulus", über Beratungsangebote für jugendliche Migranten in Berlin

FREITAG: In Berlin sind mehr als ein Drittel der türkischen Jugendlichen ungelernt. Viele haben keinen Schulabschluss. Wie unterstützt das Projekt Kumulus jugendliche Migranten beim Übergang von der Schule zum Beruf?

HEIDI GELLHARDT: Wir machen in den Schulen ab der neunten Klasse sehr intensive Beratungsangebote. Die Jugendlichen sollen schon vor dem Abschluss der Schule mit dem Thema Berufswahl konfrontiert werden. Wir holen dann auch die Eltern dazu. Das ist wichtig, weil die Eltern von Migranten häufig ihre Kinder weniger unterstützen können, da sie selbst viele Fragen zum Ausbildungssystem und beruflichen Inhalten haben. Zielgruppe von Kumulus sind ausländische Jugendliche, die mittlere Bildungsabschlüsse haben oder erlangen, das sind etwa 53 Prozent der Jugendlichen. Mit Abiturienten käme man auf über 60 Prozent. Diese Gruppe hat ganz große Probleme, in Berlin in den betrieblichen Ausbildungsmarkt zu kommen. Das hat vor allem mit der allgemeinen Arbeitsmarktsituation zu tun, wie wir sie heute hier vorfinden. Meist handelt es sich um Jugendliche, die sehr integriert sind und die auch keine andere Lebensperspektive haben, als hier in Berlin zu leben.

Und die Jugendlichen, die keinen Abschluss haben?

Der übergeordnete Träger von Kumulus, "Arbeit und Bildung", hält auch für Jugendliche ohne Bildungsanschluss ein Beratungsangebot bereit. Die haben auf dem Ausbildungsmarkt praktisch keine Chancen. Da müssen wir Maßnahmen anbieten, die es ihnen möglich machen, eine Ausbildung aufzunehmen, das heißt, sie müssen zu einem Schulabschluss geführt werden.

Ein großes Problem ist die Sprachkompetenz. Viele Jugendliche mit Migrationshintergrund sprechen weder richtig Deutsch noch z.B. richtig Türkisch. In Essen hat ein ehrgeiziges Projekt begonnen, die Eltern sprachlich zu fördern. Wie ist es in Berlin?

Hier gibt es Ansätze, in den Schulen parallel zum Unterricht der Kinder Sprachangebote für Mütter oder Väter zu machen. Die wurden von den Eltern auch gut angenommen. Damit hat man zusätzlich die Eltern an die Institution Schule herangeführt und sie haben Kontakte zu den Lehrern aufgenommen. Diese Eltern konnten also sogar den Schulverlauf der Kinder etwas besser begleiten. Leider wurde dieser Ansatz bislang nur von einzelnen Schulen verfolgt.

In Finnland haben Migranten das Recht auf Sprachunterricht in ihrer Muttersprache. Ist für die Sprachkompetenz nicht besonders wichtig, dass die Sprache, die zu Hause gesprochen wird, besonders gefördert wird?

Ja, klar. Untersuchungen besagen, dass die Sprache, die zu Hause gesprochen wird, gut entwickelt sein muss. Dann ist auch die Chance, die Zweitsprache relativ perfekt zu lernen, sehr viel größer. Sprachförderung auch in der Muttersprache hat also mit Sicherheit gute Auswirkungen auf den Spracherwerb des Deutschen.

Die Berufswahl von Mädchen und Jungs ist häufig geschlechterspezifisch. Gibt es besondere Angebote für jugendliche Migranten, solche Grenzen zu überwinden?

Wir haben diese Problematik sehr scharf im Blick. Die Jungs wollen alle KFZ-Mechaniker werden und die Mädchen konzentrieren sich auf Arztpraxen, weil sie da noch eine Chance sehen. Die Frage beruflicher Orientierung ist originärer Bestandteil unserer Arbeit: Die Augen öffnen auch für andere Berufe als die, die uns klassischer Weise als Wunsch präsentiert werden.

Aber dieser Prozess, der seit den neunziger Jahren zunächst konstruktiv verlief, ist mit den Veränderungen des Arbeitsmarktes auch wieder zurückgedrängt worden. Die ganze Arbeitsmarktsituation hatte negative Auswirkungen auf solche speziellen Angebote. Die Jugendlichen haben sich sozusagen wieder "freiwillig" zurückgezogen. Aber wenn man sie sucht, gibt es diese Angebote in dieser Stadt.

Das Gespräch führte Connie Uschtrin

Kumulus wird gefördert durch die Ausländerbeauftragte von Berlin und durch den Europäischen Sozialfonds.

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