Gegen Zyniker hilft nur eine zweite Runde

Mehr Süden wagen Unser Autor macht sich über Katzen und Surfer am Südufer des Tejo Gedanken
Ausgabe 04/2018
Schicksal Tejo
Schicksal Tejo

Patricia De Melo Moreira/AFP/Getty Images

Es ist Januar. Die Nachmittagssonne scheint auf die Tische draußen vor dem Café. Zwei Surfer in Neoprenanzügen laufen barfuß vorbei, ihre Surfbretter unter dem Arm.

António Brinco, 62, grüßt wie gewöhnlich mit erhobener Faust: „A luta continua“, und setzt sich dazu. „Der Kampf geht weiter“, der Schlachtruf linker Gewerkschafter. Brinco ist Philosophielehrer an einer öffentlichen Schule hier am südlichen Ufer der Tejo-Mündung. Philosophie ist Pflichtfach in der Sekundarstufe. Die Bedienung bringt ihm einen Gin Tonic, „meine Malariaprophylaxe“. Er hat lange in Mosambik gelebt. „Ich muss jetzt eigentlich noch nach Lissabon zur Demo vorm Parlament“, sagt Brinco, „aber ich füge mich meinem Schicksal.“

„Schon wieder eine Demonstration?“, fragt Óscar, knapp 50, und nippt am Bierglas. Er hat ein Boot, mit dem fährt er raus in die Tejo-Mündung. In 20 Meter Tiefe sammelt er Muscheln. Die Ärzte haben ihm nach dem letzten Tauchunfall verboten, mit Druckluftgeräten zu tauchen, aber er muss weitermachen. Wenn er läuft, zieht er ein Bein nach.

Früher wohnte Óscar in der Favela „Torrão 2“ am Tejo, einer illegal gebauten Siedlung ganz in der Nähe, in der Hunderte von Familien leben, die in den letzten Jahrzehnten aus Afrika kamen. Auch Óscar ist schwarz. Jetzt wohnt er hier im guten Wohnviertel São João. Brinco erzählt, warum es dem „dozierenden Prekariat“ im Land so schlecht geht. Beim Reden beugt er sich nach vorne, die Ärmel der Jeansjacke hochgezogen: „Das Bildungssystem kollabiert. Überall fehlt das Geld. Viele Kollegen kön-nen ihre Elektrizitätsrechnungen nicht mehr zahlen.“ „Statt zu demonstrieren, solltet ihr es doch wie die in den Elendsvierteln hier machen. Da ist alles voller Katzen“, sagt Tetsuya Vilela, 44, dem etwas Konservativ- Großbürgerliches anhaftet. Den Vornamen hat er von seiner japanischen Mutter. Er ist Architekt und hat jetzt viel zu tun. Ausländer aus der ganzen Welt kaufen hier am Küstenstreifen, 15 Autominuten von Lissabons Innenstadt entfernt, Grund und Häuser. Tetsuya hat schon immer hier in São João am Atlantik gelebt. Wir teilen uns einen Rotwein mit Jorge, einem Rentner, der sein ganzes Berufsleben Chauffeur einer der reichsten Familien des Landes war. Jorge rückt die Schiebermütze zurecht: „Katzen? Was für Katzen?“ „Katzen nennt man die Trickinstallationen, mit denen von den Elektromasten Strom für lau abgezapft wird“, erklärt Óscar.

Die Nachbarin von gegenüber, eine Ärztin, bleibt kurz an unserem Tisch stehen. Sie sieht müde aus. Neues Thema: Die Krankenhäuser platzen aus allen Nähten. Junge Ärzte verdienen nur knapp über 1.000 Euro netto und wandern lieber aus. Patienten warten tagelang auf Bahren in Korridoren auf Behandlungen und OPs, Schulter an Schulter zusammengepfercht auf engstem Raum. „Sollen sie doch in Privatkliniken gehen.“ „Dafür wurde doch das öffentliche Gesundheitssystem zerschlagen.“ „Sollen sie doch Kuchen essen, wenn sie Hunger haben“, ergänzt jemand.

„Gegen Zyniker“, sagt Brinco, der Philosoph, „da hilft nur eine zweite Runde.“ Der Kampf, der geht weiter. Morgen.

Miguel Szymanski ist in Portugal und Deutschland aufgewachsen. Er arbeitet als Journalist in Lissabon

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