A
Ausnahmezustand Wie schmerzvoll die Erfahrung ist, wenn man ein Kind will und die Schwangerschaft nicht einfach so heteronormativ passiert, erfährt man in Nicht nur Mütter waren schwanger (edition assemblage). Man erfährt darin, wie groß das Tabu ist, über den unerfüllten Kinderwunsch zu sprechen, geradezu qualvoll gerät das für queere Menschen. Manche der „unerhörten Perspektiven auf die vermeintlich natürlichste Sache der Welt“, die Herausgeberin Alisa Tretau versammelt, sind für Hetero-cis-Leser durchaus ungewohnt, verstörend, etwa wenn ein langzeitstillender Transmensch erzählt. Unsere Autorin Johanna Montanari erfährt bei einer Beratung wiederum, dass Elternschaft auch Schicksal ist, dass es letztlich kein „Recht auf Schwangerschaft“ gibt. Im Zeitalter der Reproduktionstechnologie brennt da die (politische) Frage, wer* sich in dieses Schicksal fügen muss.Katharina Schmitz
B
Bestie Wie nähert man sich einem „Todesengel“? Olivier Guez, Co-Autor des Drehbuchs für den Film Der Staat gegen Fritz Bauer und Freitag-Autor, hat es versucht. In seinem Tatsachenroman Das Verschwinden des Josef Mengele (Aufbau) begleitet er die Flucht des als Lagerarzt von Auschwitz zu Berühmtheit gelangten Mannes.
Mengele kam 1949 nach Buenos Aires und lebte bis zu seinem Tod 1979 in Südamerika. Doch nicht nur Nazijäger Simon Wiesenthal, auch der Mossad und der deutsche Generalstaatsanwalt Fritz Bauer sind hinter ihm her. Im Lauf der Zeit muss er immer wieder Ort und Namen wechseln. Guez’ Kunstgriff besteht darin, aus Mengeles Perspektive zu erzählen. Die so zutage tretende Banalität des Bösen zeigt Mengele nicht als Dämon, sondern als zynischen Mörder (➝ Untergrund) voller Paranoia. Der Autor banalisiert jedoch nichts, und die Rezensenten sind sich weitgehend einig darin, dass seine Innenansicht des Kriegsverbrechers gelungen ist.Leander F. Badura
E
Einöde Sie habe ein zwiespältiges Verhältnis zum Dorf, bekannte Kathrin Gerlof anlässlich einer Lesung im Berliner Brecht-Haus, doch kein Schauplatz sei besser geeignet, die aktuellen Krisenphänomene einzufangen.
Ihr neuer Roman Nenn mich November (Aufbau) führt in die Einöde eines Dorfes irgendwo im Osten, umstellt von einer Maiswüste, „aussterbende Spezies. Unfruchtbarkeit. Unlust und Inzucht besiegeln sein Schicksal.“ Die ehemalige Fall-Managerin Marthe, die lieber November hieße und zu anständig ist, um ihre Hartz-IV-Klienten zu kujonieren, und deren Mann David haben gerade eine Privatinsolvenz hinter sich, das geerbte Haus scheint der letzte Ausweg. Doch die Dorfbewohner sind speziell, die Großbauern kungeln zu ihrem Vorteil, und Männer verschwinden auf mysteriöse Weise in der Biogasanlage. Marthe, die „Katastrophen sammelt“, und David, der immer dünner wird, bleiben Außenseiter. In eigenwilliger Syntax und unwillkürlichem Wechsel der Erzählperspektive lotet Gerlof, die im Freitag den tiefen Absturz des DDR-Mannes nach der Wende beschrieben hat, das erzählerische Potenzial derer aus, die geblieben sind – insbesondere der widerständigen Frauen. Ulrike Baureithel
F
Folgerichtig Die Geschichte zwischen dem Freitag und Franziska Hauser begann mit einem Porträt (der Freitag 40/2017) über die Schriftstellerin und Fotografin. Viktorianisch mutete der Besuch in Hausers Wohnung im Prenzlauer Berg an, trotz der Playmobil-Figuren, die in einer Plastikschüssel auf dem Küchentisch schwammen. Im Roman Die Gewitterschwimmerin (Eichborn) erzählt sie die Geschichte der Familie Hirsch. „Warum bist du eigentlich geworden, wie du nie werden wolltest?“
Es gibt wohl kaum eine brutalere Frage, die zwischen Mutter und Tochter gestellt werden kann. Das Oszillieren zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zieht sich durch den Roman, zwei Weltkriege, DDR und BRD, die Nachwendezeit, Alkohol und Tabletten. Folgerichtig (➝ Gesamtkunstwerk) fängt alles mit dem Tod der Großmutter an. Martina Mescher
G
Gesamtkunstwerk Unser Mann für Literatur und good ol’ Trennungsschmerz britischer Art sitzt in Birmingham. Uwe Schütte hat auch ein Ohr für Avantgardistisches, was er 2018 als Herausgeber von Mensch – Maschinen – Musik. Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk (C. W. Leske) und Mitherausgeber von Gesamtkunstwerk Laibach. Klang, Bild und Politik (mit Daniela Kirschstein und Johann Georg Lughofer) im tollen Drava Verlag bewies. Wem bei Laibachs martialischem Sound mulmig (➝ Bestie) wird, der lasse sich von Schütte beruhigen: In bester Hendrix-Manier dekonstruieren die Slowenen nationalistischen Tand auf das Krachigste. Ja? Jawoll! Ja! Mladen Gladić
K
Klassenkampf Seit 1994 begleitet Jens Grandt die Edition der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) in überregionalen Zeitungen. Er hat seine Rezensionen jetzt in einem Buch versammelt: Karl Marx, Friedrich Engels – neu ediert und neu erschlossen (Westfälisches Dampfboot). Im ersten Beitrag schildert er die Editionsgeschichte. Lenin förderte die Gesamtausgabe, Stalin war sie nicht recht. Ulbricht erreichte sie nach dem Sturz Chruschtschows, der zugestimmt hatte – unter der Bedingung, dass sie den Umfang der Lenin-Studienausgabe (50 Bände) nicht überschreiten dürfe. Weil damals schon klar war, dass es mindestens 140 Bücher werden würden, entstanden „Teilbände“, und wir lesen Angaben wie MEGA I/1, I/2 und so weiter. Michael Jäger
Klebrig Wenig ist bekannt über die Welt in 20 Jahren, aber eines scheint mir ziemlich sicher: dass immer noch Texte von Georg Seeßlen gelesen werden. Es sind nicht nur seine Themen, die Pop und Politik so eng zusammendenken, wie es sich gehört. Es ist sein Denken, das auf eine Weise anregt, wie es ganz selten ist im Kosmos des Intellektuellen. Die Texte sind kompliziert, ohne einzuschüchtern, sie irritieren, ohne Ressentiment gegen Verschraubtheit hervorzurufen. Manche funktionieren wie ein Stück Popmusik, bei dem man einfach mitgeht, andere haben den Rhythmus einer seiner bevorzugten Metaphern: der Maschine. Von Cyborgs, Liebes- und Sexmaschinen ist in Liebe und Sex im 21. Jahrhundert. Streifzüge durch die populäre Kultur (mit Markus Metz, Bertz + Fischer) viel die Rede, einer erweiterten Neuauflage seiner Sex-Fantasien in der Hightech-Welt.
Aber es geht auch um Botox, Queertopia und natürlich um jede Menge Filme. Wer sich statt für Sex für den Neoliberalismus als prägendes Gebilde unserer Zeit interessiert, findet Anregungen in Kapitalistischer (Sur)realismus. Neoliberalismus als Ästhetik. Barbara Schweizerhof
T
Tie Break Es gibt einen Typus Schriftsteller, der ist einfach eine Spur zu klug und skrupulös. Der wüsste schon, wie man einen Roman schreibt, mit dem man auch mal Kohle macht, aber der will kein Geheimnis erzählen, keine Lebensgeschichte ausplündern, etwas hemmt und quält ihn da – und selbst da weiß er, dass er nicht originell ist: „Denn der Hass auf die Literatur kommt direkt aus dem Herzen der Literatur selbst (wie es bei Julio Cortázar heißt).“ Aber wenn dann das Reflektieren eine Form findet, in die Beobachtungen aus dem Kölner Mediapark Motel One ebenso eingehen wie klägliche Puffbesuche oder das „schwache Denken“ von Vattimo (was genau es ist, wussten wir nie so recht, aber klang schon gut), dann feiert die FAZ das Ergebnis zu Recht als Popliteratur von Rang – und wenn Sie, lieber Leser, sich jetzt nicht nur für Tennis als Metapher des Schreibens interessieren, sondern auch für Rafael Nadals Einsamkeit, dann sind Sie der richtige Leser für Mein Leben als Tennisroman (Blumenbar) von Andreas Merkel, unserem Literaturkolumnisten. Michael Angele
U
Untergrund Wer den Freitag liest und sich für rechtsextreme Umtriebe interessiert, wird um den Namen Andreas Förster nicht herumkommen. Seit Jahren liefert er Berichte, Recherchen und Analysen, unverwechselbar durch großes Fach- und Detailwissen. Natürlich hat er immer wieder über den selbsternannten NSU geschrieben. Gemeinsam mit den Journalisten Thomas Moser und Thumilan Selvakumaran hat Förster nun, nach dem Ende des NSU-Prozesses, einen Sammelband herausgegeben. Unter dem Titel Ende der Aufklärung. Die offene Wunde NSU (Klöpfer & Meyer) beackern die Autoren das weite Feld des staatlichen Versagens im Kampf gegen Rechtsextremismus (➝ Bestie) und Terrorismus rund um den NSU-Komplex. Es finden sich auch immer wieder Auszüge aus den Plädoyers der verschiedenen Opferanwälte.
Förster selbst hat (unter anderen) einen Beitrag zur vollkommen misslungenen Unterwanderung der rechten Szene durch den Verfassungsschutz beigesteuert. Darin exerziert er durch, wie das System der V-Männer die rechte Szene mit Geld und Logistik gefüttert hat, wie der Staat also mörderische Netzwerke hegte und pflegte. Die wie eine Monstranz vorangetragene Behauptung, der Verfassungsschutz hätte erst durch die Selbstenttarnung des NSU von diesem erfahren, wirkt wie bitterer Hohn und ein Schlag ins Gesicht der Opfer. Leander F. Badura
V
Versuchsweise Was macht man alles Aus Liebe zur Kunst? Als ich Wolfgang Müller im Sommer zuletzt sah, war das im Berliner Valentin Stüberl, und die Menschen, die ihm und seiner Kollegin Chris Dreier wie ich auf Bierbänken gegenübersaßen, wohnten der Wiederaufführung eines Konzerts ihrer Gruppe „Die Tödliche Doris“ bei. Wir alle hatten eingewickelte Butterstullen ausgehändigt bekommen, die wir als Teil der Performance auspackten und aufaßen. Außerdem erhielt jeder eine kleine Schachtel mit Fanpostkarten der „Tödlichen Doris“, von denen habe ich erst eine geschrieben, und zwar an Katja Kullmann, die Wolfgang Müller 2014 als Autor zum Freitag holte.
Womit wir bei Teil zwei der Beantwortung der Frage wären, was man Aus Liebe zur Kunst so macht. Wolfgang Müller schreibt auch Artikel, 32 davon hat der Verbrecher Verlag jetzt zu einem Band zusammengefasst, der ebendiesen Titel trägt. Falls sie Wolfgang Müllers Text zu Arno Schmidts Hundertstem oder seinen Kommentar zu Michael Müllers Drei-Punkte-Plan für die „Welt.Stadt.Berlin“ verpasst haben, können Sie sie hier nachlesen. Mögen ihnen viele folgen. Christine Käppeler
Z
Zwangsjacke „So habe ich mir die Zukunft nicht vorgestellt“, schreibt Katharina Nocun in Die Daten, die ich rief: Wie wir unsere Freiheit an Großkonzerne verkaufen (Bastei Lübbe). Diese Zukunft ist inzwischen Gegenwart, die des digitalen Kapitalismus mit seinen Tech-Konzernen, vor denen der Mensch gläsern wird – „verraten, verdatet, verkauft“. Nocun hat sich im Freitag zuletzt mit dem Staatstrojaner befasst. Um überwachende Staaten geht es auch in ihrem Buch, so wie um gesellschaftliche Konsequenzen der überall lauernden Unfreiheit. Das könnte ausschließlich beängstigend und deprimierend sein. Doch Nocun macht den Status quo verständlich – nie technikfeindlich, dafür anpackend. Benjamin Knödler
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