A
Abgeklärt Ob die Jury, die das Wort „Klimahysterie“ zum Unwort kürte, den Unterschied zwischen ➝ Neurose und Psychose nicht kennt? Eine „Art kollektiver Psychose“ werde durch dieses Wort denen unterstellt, die sich gegen den Klimawandel engagieren, also totaler Realitätsverlust, meinen die SprachexpertInnen.
Dass „werd mal nicht hysterisch“ selbst landläufig meist eher als – zugegeben – sexistische (➝ Frauenfeindlichkeit) Variante der Warnung vor Überdramatisierung verstanden wird, scheint den SprachexpertInnen nicht so wichtig zu sein. Meint auch Julie Zeh so: „Mit diesem Vorwurf des Hysterikers wenden sich ja auch Leute gegen eine stark aufgeheizte Klimadebatte, in der man zurzeit ja auch wirklich häufig das Gefühl hat, es werden jetzt sehr aktionistische Programme in sehr hohem Tempo beschlossen, wo man zu Recht fragen kann, wie sachlich sinnvoll sind die denn überhaupt.“ Mladen Gladić
C
Canetti „Eine ebenso rätselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, die plötzlich da ist, wo vorher nichts war.“ Wie niemand vor ihm ergründete Elias Canetti in Masse und Macht die Sozialpsychologie von Menschenansammlungen. Was passiert, wenn sich das Individuum im großen Haufen verliert, eins wird mit anderen? Wann wird ein Publikum zum Mob, schlägt die Mengenlehre in Gewalt um, löst sich die Masse wieder auf? Menschenmassen haben eine Neigung zum Rausch, wenn sie sich aus konkreten Gründen bilden. Bei religiösen Messen, Sportveranstaltungen, Popkonzerten oder Filterblasen in den sozialen Netzwerken (➝ Digitalisierung) sind Menschen emotional recht gleich gepolt. Jeder wirkt wie der Verstärker der Gefühle der ihn Umgebenden, sodass man sich gemeinsam aufschaukelt – in Euphorie oder Panik. Das konnte man jüngst bei der Beerdigung des iranischen Generals Qassem Soleimani beobachten. Der Trauermarsch geriet zur Massenpanik, mindestens 56 Menschen starben. Tobias Prüwer
H
Hardrock Wenn eine Hardrock-Band der 80er sehr erfolgreich sein wollte, dann musste sie klingen wie Def Leppard auf ihrem 87er-Album Hysteria: Sieben Hit-Singles versammelt das Werk, das sich 25 Millionen Mal verkaufte. Die Band aus Sheffield wollte eine Art Rockversion von Michael Jacksons Thriller aufnehmen. Eigentlich ist das vierte Def-Leppard-Album keine Hardrock-Platte, sondern, wie der „Rolling Stone“ meinte, der „schmackhafteste Pop-Metal-Bonbon der 1980er“. Vor allem die US-Fans waren schwer begeistert. Marc Peschke
F
Frauenfeindlichkeit Oh, wie gruselt’s mir: Für den Mann scheint es nichts Angsteinflößenderes gegeben zu haben als die weibliche Sexualität, zugleich schamvolle Reinheit und libidinöses Begehren. Dieses frauenfeindliche Bild suggeriert die Erzählung der männermordenden Amazonen, der verführerischen Frau Venus bis hin zum Vamp, der selbst in Machodomänen wie Star Wars einbricht.
„Hysterie“ leitet sich von der altgriechischen Bezeichnung für die Gebärmutter ab und wurde als typische Krankheit des angeblich schwachen Geschlechts konstruiert. Tausende diagnostizierte Hysterikerinnen wurden im 19. Jahrhundert in neue Nervenheilanstalten eingewiesen. Als legitime Therapie galt die Entfernung der Klitoris. Die männliche Angstprojektion (➝ Männer, Neurose) der kastrierenden Vagina fand ihre barbarische Konsequenz. Tobias Prüwer
N
Neurose Die fünfköpfige ehrenamtliche Jury, die jährlich das Unwort des Jahres kürt, begründete ihre Entscheidung für den Begriff Klimahysterie unter anderem damit, dass das Wort „pauschal das zunehmende Engagement für den Klimaschutz als eine Art kollektiver Psychose“ brandmarke. Die Dummheit der Klimawandelleugner lässt sich da schon am Begriff ablesen.
Die Hysterie bezeichnet(e) eine Neurose. Neurotiker dramatisieren, fürchten sich – im Hinblick auf reale Dinge, die sie intensiv wahrnehmen (➝ Persönlichkeit). Eine Psychose definiert sich dadurch, dass die Betroffenen den Bezug zur Realität teils oder vollständig verlieren, manchmal halluzinieren sie. Jene, die trotz erdrückender Indizien eine menschengemachte Veränderung des Klimas anzweifeln, müssten demnach selber psychotisch genannt werden. Der Psychoanalytiker würde vielleicht sagen: Sie projizieren einen unbewussten inneren Konflikt. Und wehren ab, was so unangenehm wahr ist, dass das Eingeständnis wehtun würde. Konstantin Nowotny
D
Digitalisierung Die Beschleunigungen und Allgegenwärtigkeiten, welche die Digitalisierung hervorruft, scheinen eine permanente Erregung zu begünstigen. Wer stets „Flexibilität“ und „Optimierung“ einfordert, schürt Angst vor Kontinuität; verunglimpft als „Erstarrung“.
Laut Fritz Riemanns tiefenpsychologischer Studie Grundformen der Angst muss die hysterische ➝ Persönlichkeit „jeden Impuls, jeden Wunsch möglichst sofort befriedigen, weil Warten unerträglich ist“ (➝ Konsum). Nahezu alle Sphären der Digitalisierung – von der Arbeitswelt bis zur Partnerrekrutierung – begünstigen nervöse Verhaltensformen. Reflexe ersetzen Reflexion in Debatten. Die Selbstdarstellung, das Image gleicht dem Vermögen einer Person. Meinungen werden im Gestus der Empörung oder der Begeisterung kundgetan. Die digital übermittelte Morddrohung wird zur immer gewöhnlicheren Kommunikationsform. Alles Merkmale einer immer tiefer in der Gesellschaft verankerten Grundhysterie (➝ Zeitgeist). Erst wenn wir anfangen, Selektionskompetenzen gegenüber der permanenten Verfügbarkeit von allem zu entwickeln, ist es vielleicht möglich, zu einer von durchdachten Gedanken und originellen Ideen getragenen Kultur zurückzukehren. Marc Ottiker
J
Jugend Der Hysterievorwurf hat ein Machtgefälle, schon immer. Erst warfen es die ➝ Männer den Frauen vor, dann oft die Männer den Feministinnen, nun überwiegend die Alten den Jungen. Es ist leicht, die Wahrnehmung der Anderen als ➝ Neurose zu diffamieren, wenn man nicht betroffen ist. Mit dem Alter an sich hat das nichts zu tun. Aber wenn der Vorwurf der Klimahysterie geäußert wird, dann regelmäßig von denen in Machtpositionen gegenüber denen, die (noch) wenig Macht haben. Besonnenheit mag angebracht sein. Die Apokalypse steht sicherlich nicht bevor. Aber der Planet wird sich erheblich ändern. Das betrifft vor allem jene, die in dieser Zukunft leben möchten. Gründe, nervös zu werden, haben sie allemal. Konstantin Nowotny
P
Persönlichkeit Die Freud’sche Diagnose der Hysterie hat in der gegenwärtigen klinischen Psychologie keinen Platz mehr. Aber ein Residuum blieb: die „histrionische Persönlichkeitsstörung“. Im Gegensatz zur Hysterie ist diese psychische Abweichung im medizinischen Klassifikationssystem DSM vermerkt.
Ein „histrio“ bezeichnet im Lateinischen einen Schauspieler, die „hystéra“ hingegen meint einen Körperteil (➝ Frauenfeindlichkeit). Gemein ist der alten und neuen Diagnose die Theatralik, die Betroffene an den Tag legen. Sie neigen zur übertriebenen Darstellung der Realität, beschreiben ihre Gefühlszustände detailreich und ausführlich. Hört man ihnen zu, drängt sich der Eindruck auf, ihre Sorgen und Probleme seien viel intensiver als die eines durchschnittlichen Menschen. Und das ist auch ihr Ziel: Hinter der Inszenierung verbirgt sich ein immenses Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, das zur Not auch mit manipulativen Techniken bis hin zur Simulation von Krankheitssymptomen befriedigt wird. Histrioniker gelten unter Psychologen als schwer zu behandeln, denn ähnlich wie Narzissten zeigen sie meist wenig Einsicht und haben selten das Gefühl, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Hilfe suchen sie, wenn die gefühlte Dramatik schwer auszuhalten wird oder dem unbefriedigten Geltungsdrang die Depression folgt. Wie viele Menschen von der Störung betroffen sind, ist daher schwer zu sagen. Für die – meistens falsche – Hobbydiagnose taugt sie hervorragend. Konstantin Nowotny
M
Männer Dass auch Männer „hysterisch“ sein, dass ihre Symptome der Hysterie ziemlich ähnlich sein können, ist inzwischen unumstritten. Aber es gab und gibt dafür meist andere Bezeichnungen. Manche Ursachen werden wieder weiblich verortet, etwa in einer problematischen Mutter-Sohn-Beziehung oder in der Abwesenheit des Vaters gesehen.
Zu Beginn des 20. Jahrhundert war es die Neurasthenie, die Männer zum Arzt trieb. Deren Symptome ähnelten denen der „Hysterie“. Auch die Hypochondrie kommt bei Männern vor und hat „hysterische“ Komponenten. Nach 1918 tauchten elende Gestalten, die die Höllen in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges überstanden hatten, als „Kriegszitterer“ in der medizinischen Literatur auf. Auch sie waren lange Zeit mit dem abwertenden Bann der Hysterie belegt, erinnerten sie doch – wie auch die anderen zahllosen Kriegsversehrten – an die „Schmach der Niederlage“. Heute würden ihre Symptome als posttraumatische Belastungsstörung gedeutet. Magda Geisler
V
Vibrator Ist nicht so, als hätten Frauen vor Ende des 19. Jahrhunderts nie masturbiert – aber den Vibrator hat angeblich ein Mann (➝ Männer)erfunden: der Brite Joseph Mortimer Granville, ein Arzt, denn 1883 galt die Stimulation von Klitoris und Vagina nicht als Sex, sondern als Behandlung der „Hysterie“: eines Frauenleidens, das nach der Fantasie antiker Mediziner von der Gebärmutter aufgrund von fehlendem Sex ausgehen sollte.
„Behandelt“ wurden „hysterische“ Frauen durch die Herbeiführung einer „hysterischen Krise“, in der männliche Ärzte wohl aufgrund einer männlichen Beschränkung des Denkens keinen Orgasmus sehen konnten. Was zuvor eine Stunde Behandlung erforderte, dauerte jetzt nur noch wenigen Minuten. Bald gab es Vibratoren privat zu kaufen, angepriesen in Frauenzeitschriften, und das bis in die zwanziger Jahre hinein. Danach „bekamen“ Frauen ein sexuelles Begehren, die hysterische Krise wurde zum Orgasmus, Klitoris-Stimulation zu Sex, Hysterie zu Quatsch. Elsa Koester
Z
Zeitgeist Der Zeitgeist kann „hysterische“ Züge tragen, wenn zu rascher Wandel und verunsichernde Entwicklungen das Klima bestimmen. Neben Mahnern und Warnern, die zur Vernunft aufrufen, melden sich Beschwörer der ➝ Apokalypse und Volksverführer im öffentlichen Diskurs. Es entsteht ein Gebräu, in dessen Bodensatz obskure Rettungsideen brodeln.
Schon einmal wurde eine ganze Epoche als Zeitalter der Nervosität beschrieben. Das Buch von Joachim Radkau meinte die Periode zwischen Bismarck und Hitler. Manches ähnelt der Gegenwart. Auch gegenwärtig sind ein nervöses Flirren, multitaskende Hektik (➝ Digitalisierung)und beunruhigende Grenzauflösungen eine ängstigende Zeiterfahrung. Magda Geisler
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