Dorothy Thompson ist vermutlich die erste Starreporterin in der Geschichte des Journalismus. Als Auslandskorrespondentin US-amerikanischer Zeitungen sorgte sie mit ihren Beiträgen zum Aufstieg der NSDAP und später mit Berichten aus der Sowjetunion weltweit für Furore und wurde insbesondere nach ihrem Rausschmiss aus Nazideutschland zur Galionsfigur der Pressefreiheit. Zurück in den USA, schrieb sie eine der erfolgreichsten Kolumnen für die Herald Tribune und wurde vom Magazin Time zur einflussreichsten Frau Amerikas nach Eleanor Roosevelt gekürt. In Hollywood und am Broadway inspirierte sie Katharine Hepburn und Lauren Bacall in ihren Rollen als Politjournalistinnen.
Die Dokumentation, die die Gestapo veranlasste, sie 1934 aus Deutschland auszuweisen, war in de
hland auszuweisen, war in der Zeitschrift Cosmopolitan erschienen, damals noch ein Medium für investigativen Journalismus, und fasste Thompsons Eindruck von Adolf Hitler zusammen, den sie zuvor zum Gespräch im Hotel Kaiserhof in Berlin getroffen hatte.Der Führer in spe sei knorpelig und würdelos, schrieb sie, unsicher und geziert im direkten Gespräch, allein seine Augen strahlten etwas Hypnotisches aus. Thompson ist zunächst unverständlich, wie ein prototypisch kleiner Mann die Massen bewegen kann, und im Fortgang der Reportage liefert sie eine Analyse. Hitler mochte kein aus Stein gemeißeltes Antlitz haben wie Hindenburg oder den fröhlichen Blick eines Stresemann, aber er vermochte durch seine eigene Mittelmäßigkeit all jene Bauern und Arbeiter abzuholen, deren magere Ersparnisse in Kriegs- und Regierungsanleihen dahingeschmolzen waren, deren Söhne im Krieg gefallen waren und die nun, während die alte Kaiserriege behütet im Exil saß, unorganisiert, verwirrt und unglücklich auf bessere Zeiten hofften und auf ein klares Feindbild warteten. Es war dabei, so Thompson, ganz egal, dass der von Hitler angepriesene Sündenbock des „Geldjuden“ voller Widersprüche steckte. Denn in Mein Kampf würden Juden gleichzeitig als verwahrlost und pompös bezeichnet, als Rationalisten und Verschwörer, als Massenmörder und Pazifisten.Massenweise HassbriefeWie andere Zeitdokumente des aufsteigenden „Dritten Reichs“, zum Beispiel der Fortsetzungsroman Das Spinnennetz von Joseph Roth, mit dem Thompson auch als Übersetzerin zusammenarbeitete, ist diese Dokumentation dann am stärksten, wenn sie sich direkt den Menschen zuwendet, die in Deutschland und Österreich vom Umbruch zur Diktatur betroffen waren. Thompson sprach mit österreichischen Handwerkern, die hungern mussten, weil ihre deutschen Kunden nicht mehr über die Grenze durften. Ein SA-Mann vertraute ihr an, wie Hitler die Schlägertruppe zunächst als Miliz benutzte und sie dann brutal ausschaltete. Sie erzählt von teuren Hakenkreuzfahnen, die trotz Hyperinflation plötzlich aus Fenstern hingen, und von einer Frau, die bei den Passionsspielen in Oberammergau Jesus am Kreuz als den Führer bezeichnete.Ich traf Hitler! oder, wie es im Englischen mehrdeutiger lautet, I Saw Hitler! ist seit 1932 in verschiedenen Ausführungen im angelsächsischen Raum erschienen und jetzt im Wiener Verlag Das vergessene Buch in liebevoller Neuübersetzung, ergänzt um eine zeitgeschichtliche Einordnung des Hitler-Interviews.Thompsons Popularität stieß in den USA übrigens nicht nur auf Zustimmung. Ihre intuitive Beschreibung Hitlers wurde von zahlreichen Pressekollegen als weibliche Fehleinschätzung verbucht. Der amerikanische Journalist Karl von Wiegand sprach ihr gleich jegliches Urteilsvermögen ab. Der Schriftstellerin Alice Roosevelt Longworth schreibt man die Aussage zu, Thompson sei die einzige Frau gewesen, die es jemals geschafft habe, ihre Wechseljahre zu veröffentlichen und dabei Geld herauszuschlagen. Auf dem Höhepunkt ihrer Bekanntheit erhielt Thompson so viele Hassbriefe, dass sie mit einem Laster angeliefert werden mussten. Ihre Sekretärin sendete die bedrohlichsten weiter ans FBI. Gleichwohl hat sich Thompson bei ihrer Themenwahl nie unter Druck setzen lassen, galt als Trendspotterin, und als sie 1961 ihrem zweiten Herzinfarkt erlag, titelte Time, sie sei ohne Reue entschlafen.