Im Alter von Paul

Filmfestival Locarno Negrophile Zombies und klischeebehaftete Selbstfindungsstories: Viele der beim Festival in Locarno gezeigten Dokumentarfilme werden ihren Weg in die Kinos wohl nicht so leicht finden

China ist Stammgast im Tessin seit den Zeiten des Festivaldirektors und Sinologen Marco Müller. Daran hat sich nichts geändert, in diesem Jahr geht der Hauptpreis nach Asien. Die Juryentscheidung, den auch als Lyriker und Romancier bekannten Regisseur Li Hongqi für seinen Wettbewerbsbeitrag Han jia (Winterferien) mit dem Goldenen Leoparden auszuzeichnen, würdigte einen der in seinem Minimalismus gelungensten Filme des Festivals. Vor einem tristen Haus in einem nordchinesischen Dorf lungern vier gelangweilte Schüler wortkarg herum, während aus dem Off die Böller eines Feuerwerks zu hören sind. Nicht minder einsilbig verlaufen die Dialoge zwischen dem Großvater und seinem jüngsten Enkel, der sich wünscht, eine Waise zu sein. Den Kontrast liefert am Ende der Lehrer mit sozialistischen Phrasen vor seiner Schulklasse. Was der Rezensent der Festivalzeitung als vielleicht komischsten jemals gedrehten chinesischen Film verstand, ließ sich auch als nihilistische Parabel auf die chinesische Gesellschaft von heute lesen.

Als Anklage eines offiziell vertuschten Vorfalls hat der Dokumentarist Xu Xin den mit 356 Minuten längsten Film des Festivals gedreht. Sein Titel Karamay ist der Name einer chinesischen Bergarbeiterstadt, in der sich am 12. August 1994 eine Katastrophe ereignete, die 323 Menschen das Leben kostete, zum Großteil Kinder. Während einer Schüleraufführung vor Behördenvertretern brach ein Feuer aus, dem nur die offiziellen Gäste entkamen. Xu Xin gibt in ausführlichen Interviews den Zeugen der Tragödie eine Stimme, meist Eltern der Opfer, die mit erstaunlicher Offenheit ihrem Zorn Ausdruck verleihen. Dass der Film in China verboten ist, verwundert nicht. Andererseits erwartet man in diesem Jahr dort 400 neue Produktionen, wie der mit einem Ehren-Leoparden ausgezeichnete Regisseur Jia Zhang-ke zu berichten wusste. Nur 60 von ihnen erreichten die Kinos.

Ein ähnliches Los werden die meisten Festivalfilme anderswo teilen, trotz zahlreicher eingeladener und umworbener Industrievertreter. Zu seinem Einstand wollte der neue Direktor Olivier Père, der zuvor fünf Jahre lang die „Quinzaine des Réalisateurs“ in Cannes geleitet hatte, auch provozieren. Marvin Krens Langfilmdebüt Rammbock lässt seine Protagonisten gegen Berlin bedrohende Zombies ums Überleben kämpfen. Weit drastischer führt der kanadische Pornospezialist Bruce LaBruce in L.A. Zombie eine negrophile Variante dieser Spezies in Los Angeles vor – für das Festival von Melbourne ein Grund zur Ablehnung. Die Aufregung darüber ist aber gering, ebenso wie über die Reise des renommierten Regisseurs Christoph Honoré durchs Schwulenmilieu in Homme au bain oder den eher pubertären Film von Isild LeBescos Bas-Fonds über eine weibliche Dreier-Kommune, deren Bewohnerinnen sich meist anschreien und nebenbei noch einen Mord begehen. Schlecht ausgewählt war der deutsche Wettbewerbsbeitrag Im Alter von Ellen von Pia Marais über eine Frau (Jeanne Balibar), die aus ihrem Job als Stewardess und einer unbefriedigenden Beziehung aussteigt, um bei alle Klischees bedienenden Tierschutz-Aktivisten und schießlich in Afrika zu landen.

Zu den jungen Regisseuren, auf die Direktor Père setzen will, zählte der Schweizer Paul Riniker, 64, nicht. Er debütierte nach 70 Dokumentarfilmen fürs Schweizer Fernsehen mit Sommervögel: Die ungewöhnliche Liebesgeschichte mit einer wunderbaren Sabine Timoteo war hoffnungsvoller Ausklang eines zwiespältigen Festivals.

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