Zum 100. Geburtstag des Bestseller-Autors John Williams: Verdächtig, dieser Stoner

Literatur Vor hundert Jahren wurde der US-amerikanische Autor John Williams, Autor des posthumen Weltbestsellers „Stoner“, geboren. Zeit für eine Revision
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 35/2022

Wie ein umtriebiger Agent legte man diesen Roman all denjenigen ans Herz, die ihn gerade wegen seines gigantischen posthumen Welterfolges nicht lesen wollten, weil er ihnen aus diesem Grund geradezu „verdächtig“, fast „coelhohaft“ vorkam. Das geht schon seit 2013 so. Und jetzt muss man bei der Wiederlektüre feststellen, dass man die wahre Bedeutung dieses Lieblingsbuchs – wenn es diese bei einem literarischen Werk überhaupt gibt – vielleicht die ganze Zeit über fehlgedeutet hat.

Hierbei geht es weniger um die spärliche Handlung von John Williams’ Roman Stoner, die schon im ersten Absatz umrissen wird und damit einer der größten Spoiler der Weltliteratur ist: „William Stoner begann 1910, im Alter von neunzehn Jahren, an der Universität von Missouri zu studieren. Acht Jahre später, gegen Ende des Ersten Weltkriegs, machte er seinen Doktor der Philosophie und übernahm einen Lehrauftrag an jenem Institut, an dem er bis zu seinem Tode im Jahre 1956 unterrichten sollte. Er brachte es nicht weiter als bis zum Assistenzprofessor.“

Dieses „Er brachte es nicht weiter“ führte mich wohl bei der ersten Lektüre, als die ganze Welt – zunächst zögerlich die USA und dann umso stürmischer Europa – über dieses wiederentdeckte Buch von 1965 sprach, auf die falsche Fährte. Dieser belesene Professor war in meiner Erinnerung ein Versager, der beruflich mehr aus sich hätte machen können, hätte er nur gewollt. Eine verschrobene, rätselhafte Bartleby-Figur, die ständig vor sich hin zu murmeln scheint: „Ich möchte lieber nicht“, dachte ich. Und dann nimmt er noch das ganze Universitätsmobbing seines Widersachers, seine kaputte Ehe mit einer Frau aus wohlsituierten Verhältnissen, den Alkoholismus seiner Tochter und das Ende einer vielversprechenden Affäre einfach so hin. Immerhin redet er sich letzteres mit den weisen Worten schön: „Wenigstens gehen wir aus diesem hier mit uns selbst intakt hervor. Wir wissen, dass wir sind – wer wir sind.“ Aber kein einziges Mal bäumt er sich gegen all das wirklich auf. Stoisch reagiert er nur auf den frühen Krebstod, gegen den jeder Mensch ja sowieso machtlos ist.

Diese falsche Lesart schmälert gleichwohl nicht die prosaische Wucht des Buchs. Im Gegenteil: Gerade ein vergeudetes Leben ist, wenn man es so verdammt kühl und cool runtererzählt, ein Ereignis. Nur ist dieses fiktionale Leben eben keine Empathie heischende Loser-Geschichte, die auf existenzialistische Weise die Sinnlosigkeit des Daseins feiert, weswegen sie von einem neoliberalistisch geprägten Leser belächelt, wenn nicht gar verachtet werden könnte. Es ist eine einzige Erfolgsgeschichte, heute würde man sie als ein herausragendes Werk einer Literaturgattung feiern, die sich dem Kampf gegen den Klassismus verschrieben hat.

Für diese Revision der eigenen Rezeption muss man zum 100. Geburtstag von John Williams nicht unbedingt die bereits 2018 erschienene Biografie mit dem Titel Der Mann, der den perfekten Roman schrieb (dtv) zur Hand nehmen, doch es lohnt – weil sie neben dem Auf und Ab eines Schriftstellerlebens von den Intrigen, Machenschaften und Verwerfungen des amerikanischen Literaturbetriebs auf packende Weise erzählt.

Charles J. Shields erwähnt darin ein Schreiben von Williams, in dem es darum geht, wie dieser selbst den Stoner sah: „Allem äußeren Anschein nach ist er ein Versager … Aber das Thema des Romans wird darin bestehen, dass er eine Art Heiliger ist; oder anders gesagt, es ist ein Roman über einen Mann, der keinen Sinn in der Welt oder in sich findet, aber der einen Sinn oder eine Art Sieg in der ehrlichen und beharrlichen Verfolgung seines Berufs findet.“

Man möchte hinzufügen, dass Stoner ein Held seines Lebens ist. Der Farmersohn aus Missouri soll Agrarwissenschaften studieren, um mit diesem Wissen den geplagten Eltern zu helfen. Er entscheidet sich nach dem Hören eines Shakespeare-Sonetts aber dazu, das Fach zu wechseln und fortan englische Literatur und Philosophie zu studieren. Er erzählt seinen Eltern zunächst nichts davon. Autark stößt er die schwere Tür in eine Welt der Literatur auf, die ihn zutiefst beglückt, und er kann durch diese Berufung, die zugleich sein Brotjob werden wird, (über-)leben. Wenn das, wie gesagt, mal keine Erfolgsgeschichte ist. Ein Widerstand gegen die vermeintliche gesellschaftlich-soziale Vorherbestimmung, ein Faustschlag gegen all diese Selbstoptimierer und selbstgefälligen Dampfplauderer. Ein Leben in Würde. Und natürlich weiß Stoner auch um die Ambivalenzen seiner menschenwürdigen monetären Lage, nämlich dass er „die erbärmliche Sicherheit des Festangestellten einer Institution genoss, die irgendwie nicht scheitern konnte“.

Darin gleicht diese Geschichte in Teilen der Biografie von Williams. Auch Williams löste sich aus prekären Verhältnissen, wenn auch etwas besser gestellt als sein Stoner, arbeitete statt auf dem Feld als junger Mann beim Radio, konnte dank eines Stipendiums für Kriegsveteranen sein Hochschulstudium abschließen, promovierte und durfte sein Leben lang mit der gesunden Hybris leben, er sei ein Schriftsteller, der seinen Lebensunterhalt als Dozent an der Universität und Verleger verdiente. Vier Ehen, viele Affären hatte der Lebemann – und man kann wohl sagen Alkoholiker – Williams. Dabei stieß ihm immer wieder das Luxusproblem auf, dass er sich zeit seines Lebens vom Status des „Writers’ Writer“ nicht hatte emanzipieren können. Weil seine vier Romane, die sich drastisch im Genre unterschieden, Ladenhüter blieben.

Story einer Selbstfindung

1948 erschien der expressionistische Erstling Nichts als die Nacht über einen jungen Faulpelz, der einen Tag durch eine namenlose Stadt zieht; Williams war dieses Debüt später peinlich.

Dann verpuffte auch noch der großartige, naturalistische Anti-Western Butcher’s Crossing von 1960: keine rauchenden Colts im Saloon, deren Kugeln Whiskeyflaschen zerdeppern, und keine Indigenen, die man heute in Gedanken in Winnetou-Kostüme zwänge. Stattdessen die Cormac-McCarthy-hafte Geschichte eines Harvard-Studenten, der 1870 die „Wildheit“ in Kansas sucht und sich einer blutigen Büffeljagd anschließt. Am Ende steht er vor einem Trümmerhaufen (dass er mithalf, die Ureinwohner ihrer Lebensgrundlage zu berauben, ist eine andere traurige Pointe). Die New York Times besprach das Werk ausgerechnet in einer Westernkolumne, deren Autor einen „Plot“ vermisste und dazu riet, das Buch „jederzeit beiseitezulegen, was viele Leute tun werden“.

Mit letzterem hatte er leider recht. Die Geschichte einer Selbstfindung, einer Konfrontation mit dem Ich unternahm Williams dann mit ebenjenem Stoner im akademischen Umfeld erneut.

Zuletzt erschien der ambitionierte Briefroman Augustus (1972) über den römischen Kaiser, der ihm immerhin den National Book Award einbrachte, den er sich kurioserweise mit John Barth für dessen metafiktionale Novellen-Trilogie teilen musste. Aber gegen eine von Experimenten geprägte literarische Postmoderne hatte es Williams eben nicht leicht. Gleichwohl besticht Augustus noch heute formal durch seine Modernität, inhaltlich verzichtet das Buch auf krampfhafte Bezüge zur Zeitgeschichte. „Bloß kein Henry Kissinger in einer Toga“, wie Williams bei der Romanarbeit notierte.

Williams bewies trotz seines mediokren Renommees also einen sehr langen Atem. Nur die Lunge des Krawattenschal tragenden Rauchers wollte am Ende nicht mehr. Wenn er in den 1980ern in den Hörsaal schritt, zog er „einen kleinen silbernen Sauerstofftank auf Rädern hinter sich her“, wie Charles J. Shields schreibt. „Er benutzte die damit verbundene durchsichtige Maske, die er in der einen Hand hielt, während er abwechselnd durch sie inhalierte und dann einen Zug aus einer brennenden Zigarette nahm.“ Einem ähnlichen Sauerstofftank-Schicksal erlag auch sein Kollege Richard Yates, der bei Williams’ Verabschiedung von der University of Denver 1986 trunken vorbeischaute. Auch Yates’ erst posthum weltweit gefeierter Klassiker Zeiten des Aufruhrs ist ein Erweckungserlebnis. Ob auch hier die Erinnerung ein Zerrbild hinterlassen hat, muss überprüft werden.

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