A
Antikapitalistisch „Kolejka“, zu Deutsch „die Warteschlange“, ist das polnische Gesellschaftsspiel des Jahres 2012: ein sozialistischer Spaß für die gesamte Familie. Hier wird Geschichte gespielt – nach den Regeln des Kommunismus. Ganz im Sinne der antikapitalistischen Planwirtschaft (➝ Provopoli). Ausgestattet mit einem Einkaufszettel, muss jeder Spieler versuchen, die Waren so schnell wie möglich zu besorgen. Leider sind die Läden aufgrund von Lieferengpässen leer, sodass sich die Spieler in Warteschlangen einreihen müssen. Aktionskarten entscheiden, wer ein Feld vorrücken darf (Vitamin-B-Profiteure) und wer sich hinten anstellen muss (wegen Polizeibeleidigung) – Drängeln vorprogrammiert! Wer leer ausgeht, dem bleibt noch der Schwarzmarkt.
Ursprünglich war „Kolejka“ vom Institut für Nationales Gedenken als Bildungsspiel für Jugendliche gedacht – um über die Schattenseiten des Kommunismus aufzuklären. Kommunismus zum Spaß macht sicher Spaß. Alina Sabransky
B
Bachelorette Nachdem seit vielen Jahren im international erfolgreichen Fernsehformat Bachelor ein gut frisierter Mann Rosen verteilt, hat man später auch einer Bachelorette die Chance gegeben, ihre große Liebe quotenstark im TV zu finden. 20 veritabel durchgecastete Barbier-Models buhlen in einer Luxusvilla mit Pool, Prosecco und Pipapo um die Gunst einer hübschen Frau. Um die balzenden Gockel näher kennenzulernen, kann die Junggesellin Einzel- und Gruppendates vergeben, das ist entweder etwas mit Kerzenschein-Romantik oder etwas mit Action. Am Ende einer Folge vergibt sie rote Schnittblumen an die, die sich am besten für den Trashkandidaten-Wiederverwertungszyklus eignen. Während man im Originalformat den bitchigen Bewerberinnen beim Lästern und Langweilen zuschaut, wird man bei der Bachelorette das Gefühl nicht los, dass in der Kandidatenvilla Bromance und Businessgeist (➝ Wall Street) im Vordergrund stehen. Auf die Liebe, Prost! Elke Allenstein
Barbie & Ken Manchmal sehnt Barbie sich nach den alten Zeiten zurück, als sie nur schön sein musste (➝ Bachelorette). Einfach immer nur lächeln und sich so oft wie möglich umziehen. Klar, es war anstrengend, immer die hohen Schuhe zu tragen. Jetzt darf sie auch mal flache Schuhe anziehen, aber nun muss sie auch noch ihre Träume leben und an sich und ihre Fähigkeiten glauben. Aber wovon träumt sie denn eigentlich?
Ken hat’s gut. Der ist einfach nur da. Der hat sich gar nicht verändert. Was arbeitet der eigentlich (➝ Hunger Games)? Der musste noch nie erzählen, was er so macht. Alle mögen Ken, und keiner mag Barbie. Sie würde kleine Mädchen unter Druck setzen, sagen die Leute. Ihre Brüste wären zu groß und ihre Taille zu schlank und ihre Beine zu lang. Außerdem sei sie ein Sexualobjekt. Deswegen jetzt der Mist mit den Träumen und den Fähigkeiten. „Du kannst alles sein, du musst es nur wollen“, hat Ken gesagt, als er das letzte Mal bei ihr war. So ein Blödmann. Sprüche klopfen, das konnte er schon immer. Sie hat sich bei Tinder angemeldet, aber da waren auch nur diese Kens unterwegs. Gut, dann will ich ab jetzt eben alles, sagt sich Barbie. Hauptsache, die Kinder haben noch Lust, mit mir zu spielen. Ruth Herzberg
Der nächste Crash – Die Serie
10 Jahre nach Lehman Brothers versuchen wir aufzuklären, was passiert ist und in Zukunft passieren wird. Lesen Sie mehr zum Thema in unserer Serie
H
Hunger Games (dt.: Die Tribute von Panem) sind ein junges Beispiel (➝ Bachelorette) für den dystopischen Blick aufs Spiel des Kapitalismus. Die auch verfilmte Romantrilogie (2008 – 2010) lässt den tödlichen Arenakampf zwischen Bürgern zum zentralen Machtinstrument werden. Das Spektakel wird im TV ausgestrahlt. Solch einen kritischen Ansatz liest man in Jugendbuchbestsellern selten. Vorlagen zur Darstellung menschenverachtender Unterhaltung gibt es viele, etwa Running Man (1987). Der deutsche Film Das Millionenspiel zeigte sich schon 1970 hellsichtig bezüglich späterer TV-Entwicklungen. Auftragskiller jagen einen Kandidaten, die Zuschauer können helfen oder ihn verraten – quasi rauswählen. Tobias Prüwer
K
Klaus Lage Die Pop-Geschichte ist – trotz Adornos Diktum, dass Protest im Pop keinen Sinn mache – voller antikapitalistischer Songs. Die BRD hatte zwar nicht The Clash hervorgebracht oder einen Billy Bragg, dafür aber einen Klaus Lage, dessen ➝ „Monopoly“ 1984 ein Hit wurde. In Zusammenarbeit mit Wolf Maahn und Texter Diether Dehm war ein Song über den Vater und Arbeiter entstanden, „Randfigur in einem schlechten Spiel“, aber: „Wen juckt das schon?“, sicher nicht „die Herrn der Schloßallee“. Auf Youtube findet man ein lustiges Video der Klaus Lage Band – und Mitschnitte, die den heutigen Linkspolitiker Dehm beim Performen des Songs zeigen. Marc Peschke
M
Monopoly Der Star unter den Kapitalistenspielen. Ziel: so viel Grundbesitz wie möglich anhäufen und die Mitspieler in die Insolvenz treiben. Elizabeth M. Phillips, Anhängerin des Ökonomen Henry George, entwickelte 1903 den Vorgänger in zwei Versionen. Die erste, monopolistische, ist das heute bekannte Monopoly. Die zweite bediente sich Georges ökonomischer Theorie, das Grundeigentum aufzuheben und alle Spieler gleichmäßig am Wohlstand zu beteiligen. Das Spiel war an Universitäten beliebt und gelangte so zu dem arbeitslosen Vertreter Charles Darrow. Er sah seine Chance (➝ Sparkasse) und kaufte Phillips für 500 Dollar die Patentrechte ab,die er wiederum für 7.000 Dollar zuzüglich Umsatzbeteiligung an den Verlag der Parker Brothers verkaufte. Darrow wurde der erste Brettspiel-Millionär. Phillips bekam nichts und fühlte sich betrogen. Von Georges ökonomischen Ideen blieb bei dem Verkaufsschlager nichts übrig. Susann Massute
P
Poch Klar, dass gleich lautes Geschrei, vor Freude und natürlich Zorn (➝ Zögern), unvermeidbar sein wird. Und trotzdem oder genau deshalb spielen wir. In unserer Familie ist dieses Spiel „Poch“. Das Glücksspiel, das mit einem runden Pochbrett und einem Kartendeck gespielt wird, gilt als Vorläufer des Pokerspiels. Es stammt aus dem Jahr 1441.
Es ist vielleicht das urkapitalistischste Spiel, das es gibt. Warum? Ohne Geld kann man es nicht spielen, wer den Einsatz nicht mehr zahlen kann, ist raus, am Ende gewinnt der mit dem meisten Geld. Immerhin, eine relevante Abweichung vom kapitalistischen System gibt es: Beim Pochen starten alle mit dem gleichen Kapital. Bei uns mit 45 alten österreichischen Ein-Groschen-Münzen. Unter Tränen werden verzweifelten Pochern auch schon mal Kredite außer der Reihe gewährt, um den drohenden Bankrott und das Ende des Spiels hinauszuzögern. Aber Vorsicht, wie im echten Leben kommt ein Rettungsschirm mit hohen Auflagen: Zinsabwasch, Zinsschneeschieben und Zinsputz. Madeleine Richter
Provopoli An regenreichen Wochenenden haben wir es öfters gespielt, zusammen mit den Kindern. Die sollten damals lernen, wie man demonstriert, Straßenbarrikaden baut, ein Haus besetzt und der Polizei ein Schnippchen schlägt, kurz, wie man zum Aufrührer wird. Das 1972 entwickelte „Provopoli. Wem gehört die Stadt?“ war die ultimative linke Kampfansage an Monopoly, bei dem man ja nur möglichst viele Immobilien und Kapital anhäufte und Schwächere austrickste. Bei Provopoli spielen die Roten (die Straßenkämpfer) gegen die Blauen (die den miesen Status quo verteidigen). Logisch, dass man eigentlich kein Blauer sein wollte. 1980 wurde das Spiel in den bayrischen Index jugendgefährdender Schriften aufgenommen, weil es „staatsfeindliche und terroristische Inhalte“ befördere. Die Kids spielten am Ende ganz ohne Not lieber wieder Monopoly und wir schlechten Gewissens auch. Ulrike Baureithel
R
Roulette, russisch Im Film Deer Hunter, einem der gültigsten Werke über die Zerstörung junger Menschen im Mahlstrom des Krieges, ist es die finale Metapher. Der Tortur, von der Anwendung als Folterinstrument ins Glücksspiel überführt, setzt sich der traumatisierte Charakter immer wieder aus. Als ihm zu dämmern beginnt, was er da tut, bedeutet das sein Ende. Der Umbau des Planeten in einen kapitalistischen Spielplatz (➝ Barbie & Ken) erinnert stark an das mörderische Glücksspiel. Jeder Billigflieger am Himmel erscheint da wie die eine Kugel in der Trommel eines gigantischen Revolvers, den sich die westliche Hemisphäre gerade kollektiv an die Schläfe hält, jede mit Plastikfolie umwickelte Biogurke ebenfalls. Wenn es dann knallt, ist alles aus. Marc Ottiker
S
Sparkasse In regelmäßigen Abständen ruft jemand verlässlich einen Satz wie „Mehr Steuererklärung, weniger Goethe!“ und löst damit in der Regel eine Bildungsdebatte aus. An vorderster Front kämpfen seit den 1980er Jahren die Sparkassen mit ihrem „Planspiel Börse“ darum, die Schüler möglichst früh auf die wirklich wichtigen Dinge des Lebens (= des Bürolebens) vorzubereiten. Hier dürfen die Schüler dann Erwachsene (= Angestellte) spielen. Wenn sie dies sehr erfolgreich getan haben, dann dürfen sie in Erwachsenenkleidung (= Polyesteranzug) in der örtlichen Sparkassenfiliale neben einem Gummibaum in Hydrokulturbällchen einen riesenhaften Scheck entgegennehmen. Tilman Ezra Mühlenberg
W
Wall Street Wer die beiden Filme von Oliver Stone sieht, kann durchaus an Fabeln denken. Doch in meinem Stammcafé, da sitzen sie, die Investmentbanker. Man erkennt sie an ihrem Anzug, der gerne mal 10.000 Euro kostet. Schuhe wenigstens von John Lobb – wenn nicht gar ein eigener Leisten aus Italien. Sie haben die Karriere (➝ Roulette, russisch) durch die Vorstandsetage gar nicht nötig, denn sie wollen nicht ärmer werden.
Spannend ist, dass die peinlichen Ausfälle (Grölen ab dem dritten Wein, Trinkgeld lässig in den Weinkühler werfen) nur dem Tretmühlenpersonal aus dem mittleren Management passieren. Die rackern Tag und Nacht an sinnlosen Slides / Charts / Papers (Bullshit Jobs) und werden in periodischer Regelmäßigkeit wegrationalisiert (Hühnerfabrik). „250 Millionen? Kriegen Sie nicht kaputt“, sagt Immobilienmogul Christoph Gröner in der WDR-Reportage Ungleichland. Was Gröner vergisst: dass der Kapitalismus, der das perverserweise möglich macht, Menschen zerstört. Jan C. Behmann
Z
Zögern Der Apfelstrudel war mal wieder göttlich, alle anderen waren gegangen. Also konnten wir Wer wird Millionär spielen, im Trainingslager auf der Onlineseite von RTL. Heute: Frauen-Männer-Teams. „Bist du dir wirklich sicher?“, wollte ich von meiner Mutter wissen, die wie aus der Hüfte eine Antwort zu einer schweren Frage schoss. Mein Vater schaute skeptisch. Wir hatten die Vorrunde lässig geschafft, wir wollten die Million. Nur kein Risiko. Die Zeit raste. „Hm, deine Frage verunsichert mich jetzt“, sagte meine Mutter. „Hundert Prozent sicher bin ich mir da natürlich nicht, aber ich weiß, dass ich das neulich irgendwo gelesen habe ...“
Zu spät. Mein Bruder zuckte grinsend die Schultern. Die beiden waren dran, lasen sich ruhig ihre Frage laut vor, dann rief mein Vater: „B! Sicher? Ja, vertrau mir! Drück B!“ Wer zweifelt (➝Roulette, russisch), verliert. Maxi Leinkauf
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.