Lass das Gaffen sein

Fall Brunner Es ist leicht, über Zivilcourage zu reden. Schwerer ist es sie zu zeigen. Warum, erklärt unser Autor

Zivilcourage wird in Sonntagsreden gerne gefordert, aber der Weg von der guten Absicht bis zur guten Tat ist weit. Das hängt damit zusammen, dass Zivilcourage Mut erfordert und die Überwindung der eigenen Ängste und den damit verbundenen Hemmungen. Befragungen zeigen, dass sich diese Ängste darauf beziehen, sich in Gefahr zu bringen, überfordert zu sein und Fehler zu machen. Jede dieser Ängste ist deutlich ausgeprägt, aber am stärksten scheint die Angst davor zu sein Fehler zu machen. Zusätzlich spielt auch die Angst eine Rolle, in ein juristisches Nachspiel verwickelt zu werden. Die Ängste sind im Alltag eher latent vorhanden, aber in einer konkreten Gefahrensituation werden sie mächtig (manchmal auch übermächtig) und erzeugen eine starke physiologische Erregung und äußerste Anspannung.

Passivität der Zuschauer heißt nicht, dass sie innerlich gleichgültig sind. Viele Gaffer sind hoch erregt und äußerst irritiert. Sie sind innerlich stark durch Ängste bewegt, und sie versuchen, die Ängste einzudämmen und nach außen zu verbergen, um cool zu erscheinen. Angst in der Öffentlichkeit zu zeigen bedeutet im Allgemeinen auch, Schwäche zuzugeben. Man hat seine Gefühle nicht im Griff und wirkt so, als wenn man überfordert wäre. Dieser Mechanismus verhindert die Solidarisierung unter den Gutmeinenden, von denen viele aus Angst so tun, als wenn sie die Gewalt in der U-Bahn, auf dem S-Bahnhof oder in einer Nebenstraße der Innenstadt nichts angeht. Gleichzeitig verbergen sie persönliche Gefühle, die den anderen zeigen würden, dass sie betroffen sind und die dadurch auch eine Solidarisierung unter Gleichgesinnten ermöglichen würden. Dadurch wird gegenseitig eine Fehldeutung im Hinblick auf die eigene Besorgnis hervorgerufen.

Unsere kulturelle Befindlichkeit erweist sich als sehr zwiespältig. Das kritische Bewusstsein sagt uns, dass wir uns gegen Gewalt im Alltag solidarisieren müssen, aber die Gefühle sind durch Angst und daraus folgenden Vermeidungsreaktionen gekennzeichnet. Einige greifen spontan ein, ohne weiter nachzudenken, und durchbrechen dadurch diesen Zwiespalt. Noch besser wäre eine Vorbereitung auf die Situation durch Trainingsprogramme, wie sie viele Städte anbieten. Denn das spontane Eingreifen geht mit einem hohen eigenen Verletzungsrisiko einher, wie das zivilcouragierte Handeln von Herrn Brunner zeigt, der sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt und verloren hat. Trotzdem ist es gut, dass solche vorbildlichen Helden in der Öffentlichkeit Beachtung finden. Unsere Kultur kann daraus ableiten, dass die Problematik des Eingreifens bei Gewalt nicht an dem Punkt abgeschlossen ist, wo jemand die eigene Passivität überwindet und sich entschließt, zu seiner sozialen Verantwortung zu stehen. Vielmehr ist der nächste Schritt genauso herausfordernd: Das Eingreifen erfolgreich zu gestalten, die Bedrohung zu beenden und das Risiko unter Kontrolle zu halten. Wir befassen uns viel zu wenig damit, wie man effektiv helfen kann. Aber es gilt auch: Eingreifen ist besser als Nichtstun.

Hans-Werner Bierhoff ist Inhabe des Lehrstuhls für Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden