Lauschangriff 3/02

Kolumne Seit Jahren sind Konzertbetrieb und CD-Läden randvoll mit superperfekten, brillant virtuosen Klaviersolisten. Sie haben alles. Nur keine ...

Seit Jahren sind Konzertbetrieb und CD-Läden randvoll mit superperfekten, brillant virtuosen Klaviersolisten. Sie haben alles. Nur keine Individualität; niemand kann sie sich merken. Es gibt ferner die Prominenten (Alfred Brendel), deren Großartigkeit nirgends überrascht. Und schließlich sind da noch jene, die nichts haben. Nur ihre Kunst, ihre Eigenart, ihr Geheimnis. Stünde man sonst ratlos vor dem Umstand, dass sie, im Unterschied zu allen anderen, dieses leicht gespannte Glück zu erzeugen vermögen, diese hingerissene Neugier auf die nächste Wendung?

Wie geht es zu, dass der kleine runde Russe Grigori Sokolov, nachdem er sich mit oberkellnerhafter Harmlosigkeit vom Künstlerzimmer zum Flügel gemogelt hat, den Saal derart behext, insofern der Saal kaum mehr zu atmen wagt, wenn Sokolov an gewissen Stellen seine Fingerspitzen faszinierend unlehrbuchmäßig in die Tasten tunkt? Ist es seine hoch präzise Versponnenheit, die völlige Selbständigkeit seiner Hände? Sie verleiht der Basslinie, wenn er Brahms´ vier Balladen und dessen f-moll Sonate spielt, Wunderwirkungen und eine Balance, die das Hineinhorchen und Hineinkriechen geradezu provoziert in die kleine Ewigkeit zwischen Jetzt und Gleich (opus 111/helikon OPS 30-83). Sokolovs Landsmann Alexei Lubimov macht auf seiner neuen CD Elegies for piano vor, wie man hellwach träumen, polyphon Farben mischen und in der Haltung des Schweigers Hosianna singen kann. Er spielt groß auf, ohne sich groß aufzuspielen; spinnt einen Faden, auf den er seltene Perlen zieht. Die dickste am Beginn: Carl Philipp Emanuel Bachs verblüffend moderne, trübselig tiefsinnige fis-moll Fantasie (ECM/Universal New Series 1771 461812-2). Wenn Spieluhren Herzen hätten und Erinnerungen und ein klein wenig Wehmut - sie klängen wie Schuberts Valses sentimentales. Es müsste sie aber unbedingt der junge Nikolaus Lahusen spielen, und er müsste es auf einem Wiener Graf-Flügel von 1835 tun. Es würde sonst nie so durchsichtig klingen und silbrig leicht, so farbenfroh und beschwingend, ja beschwipsend wie auf dieser Aufnahme, auf der im übrigen noch die Gasteiner Sonate erklingt, Schuberts höchst hinreißend misslungener Versuch, besser als Beethoven zu sein; misslungen, weil Schubert hier einfach auf eine Weise Schubert ist, die Beethoven nicht gegeben war (Celestial Harmonies/Naxos 13221-2). Dass es dem Norditaliener Maurizio Pollini als einem der ganz wenigen Prominenten gelungen ist, über 30 Jahre etwas Besonderes zu bleiben, liegt vermutlich daran, dass er sich nie um Besonderheit geschert hat. Manieriertheiten kennt Pollini nicht. Die schier utopische Geläufigkeit, mit der er Schumanns Allegro h-moll, dessen Kreisleriana und Gesänge der Frühe in harmonisch perlenden, feinfühligen Klaviergesang verwandelt, bleibt allein durch Pollinis unaufgeregte Genauigkeit und seinen Geschmack lebendig (Deutsche Grammophon/Universal 471 370-2). Egal ob der Norweger Leif Ove Andsnes Grieg oder Schumann spielt, Liszt oder Janacek oder selbst Haydn - es klingt neu und kostbar. Zusammen mit Simon Rattle holt er Brahms´ abgelatschtes 1. Klavierkonzert ins Leben zurück. Das lange Warten aufs Klavier im Eröffnungssatz lohnt nicht nur wegen Rattles feingliedrig elegischem Orchesterklang. Andsnes lässt das Klavier tändeln und schweben. Schon hier, wo andere bedeutungsschwer zulangen, betont er das Zögerlichnachdenkliche, das er im Adagio zu bodenloser Selbstvergessenheit steigert und das erst im Tanz und Diesseits des abschließenden Rondo wie überwunden wirkt (EMI 5 56583 2). Mikhail Pletnjev gehört zu den fast Prominenten unter den Besonderen. Dass es ihm an der brendelschen Bekanntheit fehlt, liegt am Ruch des kalt Intellektuellen, der ihn umgibt; anders scheint die unglaubliche Präzision und Schnelligkeit seiner Finger offenbar nicht erklärbar. Seine pianistischen Donner, Blitze und Wolken, wenn er beim Life at Carnegie Hall-Recital Busonis Bearbeitung der Bach-Chaconne, vier Chopin-Scherzi und eine ganze Bonus-CD mit stupend virtuosen Zugaben spielt, sind von extremer Klarheit. Wie hochfein und tiefzart und überrumpelnd herzenslogisch Intelligenz indes auch klingen kann, wenn ihr empfindsam und elegisch wird, das erfährt man mit Pletnjevs Interpretation von Beethovens Götter-Opus 111 (Deutsche Grammophon/Universal 471 157-2).

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