Leben am Abgrund

Transsexualität Früher war die Türkei das liberalste islamische Land. Heute werden immer wieder Aktivisten ermordet
Ausgabe 34/2016
Demonstration für Hande Kader am 21. August in Istanbul
Demonstration für Hande Kader am 21. August in Istanbul

Foto: Ozan Kose/AFP/Getty Images

Hande Kader war das Gesicht des transsexuellen Istanbul. Die stadtweit bekannte Aktivistin stand bei den Gay-Pride-Demonstrationen in der ersten Reihe, um den Polizisten Paroli zu bieten. Jetzt ist die 22-Jährige tot. Man fand man sie an einer Straße in der Nachbarschaft Zekeriyaköys, einer betuchten Wohngegend Istanbuls. Untersuchungen ergaben, dass sie erst vergewaltigt, anschließend verstümmelt und dann verbrannt wurde. Sie war Sexarbeiterin, Transfrau und Symbol der Lesben-, Schwulen-, Bi-, Trans- und Intersexuellen-Szene (LGBTI).

Ein Foto von ihr geht nun um die Welt. Es zeigt eine weinende Hande Kader im Sommer vergangenen Jahres während der Gay Pride Parade am Istanbuler Taksim-Platz, bedrängt von Polizisten. Der Gouverneur der Stadt hatte die Parade mit der Begründung verboten, sie falle in den für Muslime heiligen Fastenmonat Ramadan. Doch die Demonstranten ließen sich davon nicht abhalten. Daraufhin gingen Einheiten der Bereitschaftspolizei mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen die Teilnehmer des Umzugs vor. Hande Kader war bei LGBTI-Demonstrationen immer an vorderster Front dabei und stellte sich mutig gegen die Staatsmacht. Im vergangenen Jahr zum Beispiel hatte sie sich aus Protest gegen das Vorgehen der Polizei vor einen der aufgefahrenen Wasserwerfer gesetzt.

Aufgeheizte Stimmung

Jetzt ist sie zum Fanal der LGBTI geworden. Das unter dem Hashtag #HandeKadereSesVe („Sprich laut über Hande Kader“) tausendfach geteilte Foto befeuert eine Social-Media-Kampagne, die zum ersten Mal für Aufsehen auch außerhalb der Szene sorgt. Vergangenes Wochenende riefen LGBTI-Organisationen zu einer Demonstration auf, um der toten Aktivistin zu gedenken. Immerhin 200 Menschen nahmen an der Veranstaltung teil – trotz der aufgeheizten Stimmung im Land. „Ich war beeindruckt, dass so viele politische Organisationen gekommen sind“, sagt Şevval Kılıç, darunter auch Parlamentspolitiker der Parteien HDP und CHP. Şevval Kılıç ist Mitorganisatorin der Trans-Pride-Demo und setzt sich in ihrer Arbeit seit Jahrzehnten für die Rechte von LGBTI ein.

Aber der Mord an Kader ist kein Einzelfall und das Verbrechen ist nur das jüngste in einer langen Reihe. Erst kürzlich war ein syrischer Homosexueller in der Türkei grausam misshandelt und dann enthauptet worden. Zwischen 2008 und 2016 wurden laut der Organisation „Transgender Europe“ 43 Trans- und Intersexuelle ermordet. Das Land steht damit auf dem ersten Platz in Europa.

Dabei ist die Türkei eines der wenigen muslimischen Länder im Nahe Osten, das Homosexualität nicht mit Todesstrafe ahndet und in dem diese bereits seit 1858 straffrei ist. Es stellt zudem mit der Gay Pride, die von 2003 bis 2014 friedlich und ohne Zwischenfälle stattfand, einen Lichtblick für Pluralismus und Akzeptanz für den gesamten Nahen Osten dar. Dennoch gehört Diskriminierung zum Alltag. Es gibt aber immer noch keine Anti-Diskriminierungsgesetze in der türkischen Verfassung und kein Gesetz, das Hassverbrechen unter Strafe stellt. Homo- und Transsexuelle werden in der türkischen Mehrheitsgesellschaft systematisch ausgegrenzt.

Die Vereinten Nationen äußerten sich besorgt über die ansteigende homo- und transphobe Gewalt. Sie kritisierten, dass in der Hauptstadt eine Gruppe namens „Junge Islamische Verteidigung“ öffentlich auf Plakaten zum Mord an sexuellen Minderheiten aufrufen konnte, ohne dafür belangt zu werden. Laut Umfrageergebnissen von 2012 wollen 80 Prozent der Türken keine Nachbarn, die der LGBTI-Gemeinde zugehörig sind. Fast 30 Prozent sind der Meinung, dass diese Menschen krank sind und geheilt werden müssen.

Aus sicherer Ferne betrachtet, faszinieren die bunten Transvestiten die Türken jedoch. Zeki Müren, populäre Musik-Ikone, war transsexuell. Und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan brach am Abend des 20. Juni gemeinsam mit der prominenten Schauspielerin und Sängerin Bülent Ersoy das Fasten – einer Transfrau, die 1980 in London ihr Geschlecht umwandeln ließ. Erdoğans Auftritt fand nur wenige Stunden, nachdem die Polizei mit Gummigeschossen auf Demonstranten der Trans Pride in Istanbul geschossen hatte, statt.

Die Einstellung, Homo- und Transsexualität sei etwas Krankhaftes, ist im Land am Bosporus weitverbreitet. Das türkische Militär sieht Homosexualität als eine Krankheit an, die zur Ausmusterung führt – sofern eindeutige visuelle Nachweise vorliegen. Diese Haltung findet sich auch bei hochrangigen Politikern. So bezeichnete 2010 etwa die damalige Ministerin für Frauen und Familie, Selma Aliye Kavaf, gleichgeschlechtliche Sexualität als eine „biologische Fehlfunktion“, die behandelt werden müsse. Dass sich hochrangige Politiker derart homophob äußern, ist keine Ausnahme, sondern bestürzender Alltag, kritisiert Andrew Gardner von Amnesty International. Nicht anders sind Vorurteile und Diskriminierung im Justizwesen und bei der Polizei.

In ihrem Fortschrittsbericht bemängelt die EU, dass Artikel des türkischen Strafgesetzbuches über „öffentlichen Exhibitionismus“ oder „Vergehen gegen öffentliche Moral“ oftmals dazu genutzt werden, um Homo- und Transsexuelle zu diskriminieren. Richter urteilten mit der Begründung, Transsexuelle provozierten durch ihr unmoralisches und exhibitionistisches Auftreten ihre Mörder. So werden Gesetzesartikel zugunsten der Täter interpretiert.

Kunden als Täter

Nicht selten sind diese Täter die Freier der Transsexuellen. Auch Hande Kader wurde das letzte Mal gesehen, als sie ins Auto eines Freiers stieg. Da Transsexuelle auf dem Arbeitsmarkt systematisch diskriminiert werden, ist für viele die Prostitution die einzig mögliche Einkommensquelle. Prostitution ist in der Türkei zwar nicht illegal, aber ein Vergehen, das von der Polizei gern mit Geldbußen belegt wird, die mit 120 Lira deutlich höher sind als die rund 30 Lira, die Transsexuelle für ihre Arbeit erhalten. Zudem sind in der Türkei rund 100.000 Transsexuelle gezwungen, illegal auf den Straßen zu arbeiten. Das ist gefährlich, immer wieder werden Transsexuelle ermordet, erzählt Şevval Kılıç, die Trans-Pride-Aktivistin.

Solange die Politik der Türkei darauf ausgerichtet war, die Werte der Europäischen Gemeinschaft im Zuge der Beitrittsverhandlungen zu übernehmen, war auch der politische Wille, Menschenrechte zu achten, an der Ratifizierung verschiedener Menschenrechtskonventionen erkennbar. Doch die zunehmend islamisch und nationalistisch ausgerichtete Regierungspolitik polarisiere die Gesellschaft und bereite mit ihrer hasserfüllten Rhetorik den Boden für Verbrechen, meint Şevval Kılıç: „Die Regierung ist sehr mächtig und gewalttätig.“ Seit die Regierung wieder mit aller Härte gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK vorgeht, entlädt sich die aggressive Spannung in der Bevölkerung immer wieder an Prostituierten und Transsexuellen, da sie die angreifbarsten Minderheiten sind. Nach dem gescheiterten Putschversuch hat sich die Lage weiter verschärft. „Journalisten und Menschen auf den Straßen, die uns noch nie mochten, aber bisher schwiegen, beginnen jetzt, aktiv gegen uns vorzugehen“, erzählt sie.

Homo- und Transphobie gehört in der medialen Berichterstattung seit Jahren zum Alltag. Michelle Demishevich beschloss vor 16 Jahren, als Frau zu leben. Sie ist Journalistin, hat selbst immer wieder Gewalt erlebt und setzt sich für die Rechte der LGBTI ein. „Die Medien sind direkt verantwortlich für Diskriminierung und Gewalt. Sie repräsentieren die patriarchalische Gesellschaft. Wenn Nachrichten über Transsexuelle veröffentlicht werden, wird danach meist eine Transfrau ermordet.“

Als Beispiel erzählt sie von einem Fall in Avcılar, einer Stadt südöstlich von Istanbul: Mehrere Transfrauen, die in einem Wohnkomplex lebten, waren immer wieder Opfer von Übergriffen. Die Polizei tat nichts und schritt auch nicht ein, als ein Mob mit Fackeln Märsche veranstaltete und zum Lynchmord an den Frauen aufrief. Auch einige Medien spielten dabei eine unrühmliche Rolle. So habe der Sender Kanaltürk sehr voreingenommen über die Märsche berichtet. „Die Transfrauen mussten ihre Wohnungen verlassen und flüchteten in andere Städte, manche fanden Unterschlupf bei anderen Transfrauen. Seda, eine 25-jährige Transfrau, war gezwungen, auf der Straße zu leben. Kurze Zeit später wurde ihr lebloser Körper im Innenhof einer Moschee gefunden. Untersuchungen der Polizei ergaben, dass sie fünfmal vergewaltigt worden war. Einer der Täter war ein Mitarbeiter des Senders Kanaltürk.

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