A–Z Auch in der neunten Staffel stolpern und schweben mehr oder weniger Prominente übers Parkett. Warum die Show trotzdem ein großer Spaß ist, erklärt unser Lexikon der Woche
Arbeit 1995 verkündete der Soziologe Jeremy Rifkin das Ende der Arbeit. Kaum jemand werde zukünftig noch in der Produktion tätig sein. Tatsächlich sieht man körperliche Arbeit in der westlichen Welt heute nur selten, und die digitale Boheme nennt es Arbeit, wenn sie im Café sitzt und mit dem Smartphone spielt. Doch ist die körperliche Arbeit nicht, wie Rifkin glaubte, verschwunden, sondern wurde nur outgesourct. RTL macht sie mit Let’s Dance wieder sichtbar, denn vor jedem Tanz wird in einem Einspieler gezeigt, wie sehr sich die Prominenten beim Training angestrengt haben.
Die Clips verleihen der Show Werkstattcharakter, Tanzen meint hier nicht hedonistisches Gezappel. In Filmen wie Dirty Dancing (➝ Sozialverträglichkeit) oder Step Up le
irty Dancing (➝ Sozialverträglichkeit) oder Step Up lernen wir, dass für den Proletarier die einzige Chance auf sozialen Aufstieg in der harten körperlichen Arbeit liegt. Auch Let’s Dance hat diese Botschaft: Nur der diszipliniert an sich arbeitende Promi kann gewinnen und erhält sein ökonomisches, aber auch soziales Kapital, das in Skandalen und Misserfolgen verloren ging, wieder. Wolfgang M. SchmittBBescheidenheit, falsche Jana Pallaskes Gesichtsausdruck (beim Warten auf die Wertung der Jury oder Einblenden der Telefonnummer für das TV-Publikum) kommt wie eine zu intensiv einstudierte Version von Bescheidenheit daher. Das sieht leider so aus, als hätte die Schauspielerin (➝ Kandidaten) mit dem method acting nach Lee Strasberg ihren Weg gefunden. Infos über Grenzerfahrung (etwas mit Nahtod) sollten bei der Einordnung ihrer Interpretation beispielsweise des Wiener Walzers zu Metallica helfen. Grenzwertiger Kitsch also, gerade noch subtil genug, sodass man sie nicht auf das irgendwie Übergriffige daran festnageln könnte. Pallaske, der grundsympathische Pferdestehltyp, wirkt, als probe sie jetzt schon für die bewegende Filmpreisrede. Klänge dann etwa so: „Es macht mich traurig, dass ich gerade jetzt diese Auszeichnung bekomme, in diesen Kriegszeiten, in denen die Menschen so traurig sind ...“ (Oscar-Gewinnerin Catherine Zeta-Jones). Dann würde sie uns Mut machen. Katharina SchmitzFFrauenbild „Ohne die Frauen“, so der Dichter François-René de Chateaubriand, „würde der Mann roh, grob, einsam sein und die Anmut nicht kennen.“ Wie recht er damit hatte! Jede Woche aufs Neue erleben wir bei Let’s Dance, wie selbst die hässlichsten Entlein unter dem Strahlenschutzmantel weiblicher Grazie zu ungeahnter Schönheit (➝ Nastassja Kinski) erwachsen. Diese Form der Sublimation gelingt naturgemäß in dem einen Fall mehr (Julius Brink), in dem anderen weniger (Michael Wendler). Doch alle eint, dass jeder Tanz die einzig wahre Geschichte der Transzendenz nacherzählt, nämlich die, in der ein Junge zum ersten Mal ein Mädchen ausführt. Oder mit Oscar Wilde gesagt: „Männer brauchen die Frauen um sich, sonst verfallen sie unaufhaltsam in Barbarei.“ Machen wir uns also nichts vor, die Rettung ist und bleibt nur: die Frau. Timon Karl KaleytaHHärte Der Zuschauer fiebert nicht nur bei den Tänzen mit, sondern auch bei der fachlichen Beurteilung derselbigen. Die Wertungsrichter heißen aktuell Motsi Mabuse, Jorge Gonzáles und Joachim Llambi. Alle drei waren selbst professionelle Tänzer. Darin spiegelt sich Llambis Primat der „Erfahrungswerte“ über das akademische Blendwerk, wie er es in einem einschlägigen Sachbuch zur Kritik dargelegt hat (Das wollte ich Ihnen schon immer mal sagen, Econ-Verlag 2014).Llambi, der auch Börsenmakler war, sitzt seit zehn Jahren in der Jury. Er muss die Kandidaten immer wieder daran erinnern, dass jeder Tanz nun einmal seine Regeln hat. Davon profitiert auch der Zuschauer, der viel lernt über die Rumba oder den Salsa. Seine Urteile sind oft hart, aber immer nachvollziehbar.Meistens ziehen sie die Gesamtnote nach unten. Aber wie sein Vorbild Marcel Reich-Ranicki „selbst seine schlimmsten Verrisse immer mit dem Ziel (vorgetragen hat), die Qualität der Literatur im Großen und Ganzen zu fördern“ (S. 213), so geht es auch dem Tanzkritiker Llambi stets um die Sache. Dr. Michael AngeleIIkone Sonja Kirchberger ist jemand, der, sagen wir, Ronja von Rönne niemals sein kann, weil jener die Ironiefreiheit fehlt. Andere Generation eben, ätsch. Der Erotikstar aus Venusfalle (1988) ist die Rache der Anfang 50-Jährigen, Typ Postgender, also Frau von Kopf bis Fuß (➝ Frauenbild). Vielleicht liegt es am Zweitwohnsitz auf Mallorca, der erdet. Die Tänzerin „Lajana“ (Der König aus St. Pauli, 1998) war nicht auf den Ich-tanze-für-euch-Quark abonniert wie Potofski (➝ Mitleid, unangebrachtes). Sie investierte schlicht Fleiß, nicht zu verwechseln mit Ehrgeiz. Und doch wurde die Kirchberger raustelefoniert. Die Zuschauer reagierten erschreckend berechenbar, zogen die leicht abgeschmackte Bescheidenheit solidem Sexappeal vor. Warum genau, das sollten Medientheoretiker bald analysieren. Schön wäre nur, wenn sich Potofski vorerst eine harmlose Bänderdehnung zuzöge. Laut Reglement käme die Kirchberger dann zurück. Katharina SchmitzKKandidaten Guckt man in die Let’s Dance-Historie, so erwartet einen jedes Jahr die gleiche Spartenbesetzung: Sportler (Magdalena Brzeska, Hans Sarpei), Models (Rebecca Mir), Schauspieler (Manuel Cortez, Raúl Richter), Sänger (Maite Kelly, Alexander Klaws). Immer dabei: die nicht mehr so ganz jungen Kandidatinnen, die die Herausforderung gegen die fittere Jugend annehmen. Besonderen Eindruck hinterließen Heide Simonis, die in der ersten Staffel 2006 einiges an Häme einstecken musste („Hoppel-Heide“), und Mathieu Carrière, der als Kettenraucher zwei 90-Sekunden-Tänze durchstand (➝ Arbeit). Ebenso Beatrice Richter mit ihrem Llambi-Faible. Aber: Jung und schlank zu sein garantiert keinen Erfolg, siehe Cathy Fischer, die 2015 sofort rausflog. Da fehlte vor allem das Herzblut. Jutta Zeise Kulturtechnik Dass früher alles besser war, sieht man daran, dass die Tanzschule kaum mehr eine Rolle im Leben Heranwachsender spielt. Noch bis zur Jahrtausendwende steuerte ein junger Mann auf zwei degradierende wie prägende Ereignisse zu: Musterung und Tanzschule. Während man um das erste mitunter herumkam, gab es beim zweiten keine sozial akzeptierte Exit-Option. Zum Glück, denn wie bei jeder aufwendig zu lernenden Fähigkeit wird ihr Fehlen erst gewahr, wenn es zu spät (➝ Zeit) ist. Abgeschafft wurde die Wehrpflicht von Karl-Theodor zu Guttenberg, bei dem man davon ausgehen kann, dass er als Freiherr die Kulturtechnik des Tanzens noch beherrscht. Vielleicht haben wir Glück, und er führt bei seiner Rückkehr in die Politik endlich die Tanzpflicht ein. Timon Karl KaleytaMMitleid, unangebrachtes Ulli Potofski ist der tapsige Tanzbär von nebenan. In seinem ersten Leben wird er als RTL-Sportkommentatorlegende gehandelt. Bei Let’s Dance quält er sich fürchterlich, so wie auch der TV-Irgendwas Niels Ruf, der tänzerisch ebenfalls null drauf hatte, die Todsünde Faulheit allerdings so dreist verkaufte, als sei genau diese sein Talent. Der strenge Llambi (➝ Härte) goutierte das natürlich nicht. Auch dem Publikum missfiel die Kombination aus Frechheit und Faulheit. Er flog raus.Währendessen fährt Potofski (zuerst unfreiwillig) auf dem Ticket namens Mitleidsbonus. Seine Story im Bunte-Steno: Zuerst kam er in die Show wegen der Kohle, dann erlitt Ullis Frau einen Herzinfarkt, dann tanzte er trotzdem, weil sein Sohn sagte, er solle. Mehr als die Befürchtung, dass auch Potofski ein Herzinfarkt ereilen könnte, schwebt, besser gesagt stolpert seitdem auch nicht über die Bühne. Seine Tapferkeit entzückt angeblich die deutschen Altersheime, als „Trostspender“, obwohl das ziemlich nach Schmähkritik an Golden Agers klingt. Sowieso: es gibt wahrlich genug TV-Rührstücke, die hier Fantastisches leisten. Katharina SchmitzNNastassja Kinski Schon lange hatte sich mein Bild von Nastassja Kinski nicht mehr erneuert und so war ich erst einmal irritiert, als ich sie bei Let’s Dance nun wiedersah. Die einstmals meist fotografierte Frau der Welt wirkte stark gealtert, aber nicht das war es, was mich irritierte, sondern dass diese Frau mit den herben Gesichtszügen in ihrer Gestik, ihrem Blick und ihren Bewegungen immer noch das Mädchen spielte, das wir aus dem Tatort Reifeprüfung von 1977 kennen.Damals war sie knapp 17, heute ist sie 55, dazwischen liegen nicht einfach Jahre, sondern 100 Jahre Einsamkeit, denkt der Zuschauer, denkt natürlich nicht sie, die sie ja immer ein Bild von sich hatte. Und doch strahlt ihr Auftritt eine schamhafte Verlorenheit aus. Dabei braucht sie sich für rein gar nichts zu schämen, denn es ist so, dass sie uns mit jedem Tanz näher kommt, gegenwärtig wird. Es ist eine der großen Leistungen dieser Show, dass sie einen gefallenen Engel für ein paar Minuten wieder zum Fliegen bringen kann, selbst wenn er sicher nicht zu den besten Tänzern gehört und das auch keiner verschweigt (➝ Härte). Dr. Michael AngeleSSozialverträglichkeit Wir flanierten durch ein sonniges Hamburg, der Freund stoppte vor einer Tanzschule. Da habe er als Schüler Paso Doble gelernt, sagte er, „und alle anderen Klassiker“. Das sei gut angekommen auf Partys, „welcher Mann kann das schon“, erzählte er immer noch stolz. Ich war mal bei einer Salsa-Probestunde in Berlin, erwiderte ich, aber Salsa ist mir zu fröhlich. „Habt ihr den Contemporary zu Flugzeuge im Bauch neulich gesehen?“, fragte ich dann wie beiläufig. Niemand antwortete. „Na, bei Let’s Dance“, erklärte ich. Der Freund schaute seltsam neugierig. „Ach, du schaust Let’s Dance? Toll, das erdet dich irgendwie (➝ Ikone), das ist nicht so abgehoben.“In seinen Worten schwang mit: Ist ja auch nicht das Dschungelcamp, kein Trash. Klar treten hier O-beinige „Promis“ auf, deren Namen man noch nie gehört hat. Aber auch Magdalena Brzeska, 26-fache deutsche Meisterin in Rhythmischer Gymnastik, oder Profi-Boxer Arthur Abraham. Ebenso Politikerinnen wie Heide Simonis oder Hillu Schröder. Tanzen hat nichts Schmuddliges, eher was Gediegenes. Immerhin gehörte es ja auch schon zu den Hauptbeschäftigungen bei Hofe. Als mein Mann neulich während einer italienischen Talkshow anfing zu gähnen („Kann eine schwangere Frau Bürgermeisterin Roms werden?“), switchte ich deshalb schnell zu RTL. Maxi LeinkaufZZeit Hat eigentlich irgendwer mal nachgemessen, wie lang so eine Episode von Let’s Dance tatsächlich dauert? Es muss sich um unzählige Stunden handeln. Das genaue Ergebnis würde uns sicher schockieren, weshalb das offizielle Fernsehprogramm so tut, als hätten wir es hier mit einer gewöhnlich langen Sendung zu tun. Das aber ist selbstverständlich falsch, denn vielleicht noch mehr als um die ➝ Arbeit am Körper geht es hier um eine Einübung in Duldsamkeit. Erst wer nach schier unendlich um sich selbst kreisenden Hebefiguren und sich wiederholenden Zeitschleifen mit Sicherheit sagen kann, dass er nicht mehr weiß, wie lang die einzelne Folge und die gesamte Staffel eigentlich schon laufen, der kann sicher sein, dass er Let’s Dance und das Wesen der Zeit endgültig verstanden hat. Timon Karl Kaleyta
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