Lexikon Eine tropische Lederschildkröte verrirt sich in die Nordsee. Wie kam sie nur dorthin? Philosophen, Postrock-Bands und Dandys ließen sich von ihnen inspirieren. Sogar Formationen der Polizei. Unser Wochenlexikon
Die Teenage Mutant Ninja Turtles – die berühmtesten Schildrköten auf den Bildschirmen
Foto: Kypros/Getty Images
A
wie Achill
Manche Schildkröten schwimmen nicht, laufen aber gern mit überlegenen Gegnern um die Wette. Den ersten Bericht davon gab Zenon von Elea vor mehr als 2.000 Jahren in seinen Logik-Paradoxa. Die Schildkröte tritt gegen Achill an. Der Schnellläufer gewährt einen großzügigen Vorsprung. Beide starten zur selben Zeit. Pro Zeitspanne, die vergeht, verkürzt Achill den Vorsprung (→ Legionäre) der Schildkröte. Der wird stetig geringer – aber nie null, denn auch sie läuft immer ein Stück weiter. Streng logisch beweist Zenon, dass der sagenhafte Läufer das behäbige Tier niemals einholt. In Lewis Carrolls Story Was die Schildkröte zu Achilles sagte, die sich auf Zenons Paradoxon bezieht, schafft er das zwar
f Zenons Paradoxon bezieht, schafft er das zwar, doch die Schildkröte verwickelt ihn in einen Disput über Logik. Kein bisschen philosophisch gebildet, aber sonst sehr schlau ist Bruder Schildkröte in den Onkel-Remus-Storys von Joel Chandler Harris, einem Zeitgenossen Lewis Carrolls. Der trickst den Hasen so ähnlich aus wie der Grimm’sche Igel. Michael Suckow Cwie CurzonMary Victoria Curzon – US-Amerikanerin, verehelicht mit einem britischen Adligen – gab einer speziellen Schildkrötensuppe (mit Schlagsahne und Curry) ihren Namen. Es musste auch immer was Alkoholisches – Madeira oder Sherry – drin sein. Die Lady Curzon Soup, im zierlichen Tässchen serviert, soll im Ritz und auf der Titanic gereicht worden sein, nur für exquisite Anlässe also. Eine edle Art, Kröten zu schlucken. Bald aber beendet, weil die Jagd auf die Tiere den weiteren Bestand des Reptils gefährdete. Seit dem Washingtoner Abkommen von 1973 steht die Suppenschildkröte unter Artenschutz. In Norddeutschland wurde die Mockturtle-Suppe kreiert, die ihr Fleisch durch Kalb oder Rind ersetzte. Aber auch dieses Gericht stirbt langsam aus. Eigentlich lebte die Originalsuppe sowieso von den Zutaten und Gewürzen, wie Nelke, Lorbeer und – Sherry. Magda Geisler Ewie EindringlingVielleicht hatte sie sich schlicht verirrt. Denn eigentlich ziehen Lederschildkröten wärmeres Wasser als das der Nordsee vor. Warum also das 500 Kilo schwere Tier ausgerechnet vor Büsum sein Leben lassen musste, ist ein Rätsel. Ziemlich klar ist hingegen, wie die erheblich kleinere Amerikanische Schnappschildkröte in unsere Gewässer gelangte. Bis ihr Import verboten wurde (→ Curzon), waren die beißlustigen Panzerträger auch in deutschen Zierteichen anzutreffen. Nur werden sie bis zu einem halben Meter lang und 16 Kilo schwer. Hübsch anzusehen sind sie dann nicht mehr. Also wurden erwachsene Exemplare gerne in die Freiheit öffentlicher Seen entlassen, wo sie für Panik unter Badegästen sorgen. Schließlich können sie problemlos einen Zeh samt Knochen abzwacken. Den Gewässern tun sie auch nicht gut. Erst kürzlich versuchten Schildkrötenschützer ein ausgewachsenes Exemplar aus einem Tümpel zu bergen. Das Tier hatte ihn leer gefressen und in ein Schlammloch verwandelt. Joachim Feldmann Fwie FlaneurStellen Sie sich vor, Sie gehen spazieren. Aber nicht wie sonst – denn das Tempo geben nicht unsere Termine oder unsere vorauseilenden Gedanken vor. Vielmehr bestimmt das Tier, das uns an der Leine führt, unser Tempo. Die Rede ist nicht etwa von einem Hund, sondern – klar – von einer Schildkröte. Der große Kritiker Walter Benjamin jedenfalls schildert solche Szenen in Das Paris des Second Empire bei Baudelaire: „Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen.“ Ob sich diese Szenen wirklich zugetragen haben oder ob Benjamin damit nur gleichfalls den Sozialtypus des privilegierten Flaneurs karikieren und den Widerstand gegen die effizienter und schneller werdende Welt nachzeichnen wollte? Das Bild bleibt in jedem Fall ein starkes: Wer es eilig hat, sollte also am besten langsam machen! Timo Reuter Kwie KassiopeiaSie war Ehefrau des Kepheus, leider auch ziemlich eitel. Den Zorn darüber ließen die antiken Götter (→ Achill) an Tochter Andromeda aus. Hochmut kommt in diesem Fall nicht vor dem Fall, sondern in den Himmel: Die ganze Familie wurde zum ewigen Sternzeichen-Dasein verdammt. In Mitteleuropa ganzjährig sichtbar, sieht Kassiopeia aus wie das verrutschte W einer Schreibanfängerin, was ein bisschen gemein ist in Anbetracht ihrer einstigen Schönheit. Warum Michael Ende seiner Heldin Momo eine unscheinbare Schildkröte desselben Namens beigesellte, sollen Germanisten erforschen. Kassiopeia spricht mittels Leuchtbuchstaben auf ihrem Rücken, kommuniziert mithin ähnlich sparsam wie mitunter der Bundeskanzler. Gewiss kann auch er eine halbe Stunde in die Zukunft schauen – und verrät’s nicht. Vielleicht sollte Kassiopeia vom Literaturhimmel herabsteigen und helfen, den Menschen die gestohlene Zeit zurückzubringen. Denn bei der Rettung der Welt, wissen Olaf wie Momo, schadet Eile. Katharina KörtingLwie LegionäreDie Polizei ist in verschiedenen taktischen Formationen im Einsatz. Eine bewährte nennt sich Schildkrötenformation, die von den römischen Legionären abgeschaut ist. Zur Zeit des Julius Caesar kam sie auf und diente vor allem dem geschützten Vorrücken unter Beschuss, gerade auch gegen erhöhte Stellungen. Die erste Reihe von Soldaten hielt ihre rechteckigen Schilde nach vorn, während die nachfolgenden Reihen die Schilde jeweils über dem Kopf hielten. Weil sich diese mit den Schilden der Vorangehenden (→ Achill) überlappten, ermöglichte das einen stabilen Schutz. Die Formation machte die Einheit allerdings schwerfällig; man denke an Asterix. Heute setzt sie die Polizei weltweit vor allem bei – befürchteten – Straßenschlachten ein. Die „Schild“-Kröte dient dabei als massives Muskelspiel – oder ganz schlicht dem Schutz vor Bewurf. Tobias Prüwer Pwie PostrockErinnern Sie sich? Chicago, wo die Plattenfirma Thrill Jockey ihren Sitz hat, wurde mit der Band Tortoise – englisch für „Schildkröte“ – Mitte der 90er Jahre zu einem Ort, auf den viele wie gebannt blickten: Die Gemeinsamkeit von Gruppen wie Trans Am, Gastr Del Sol, The Sea And Cake und eben Tortoise lag vor allem in der Absage an Rockmusik, wie man sie kannte: als Parole, als starres System aus Strophe und Refrain, Sänger, Botschaft und Publikum. In diesen Bands spielten Musiker, die keine Helden mehr sein mochten und auf Gesang gerne verzichteten. „Postrock“ war das Wort – für die Rockmusik nach dem Ende der Rockmusik. Gegen die Organik des Songs rückt Tortoise die Ambivalenz von Sounds, die in ihrer Schönheit fast zu zerfließen drohten. Die Band gibt es nach verschiedenen Pausen immer noch. Das letzte Album The Catastrophist ist 2016 erschienen. „Progressive experimental music with pop sensibilities“, so beschreibt die Schildkröten-Band ihre Musik selbst. Warum sie sich Tortoise genannt hat? Vielleicht weil sie auf so bedächtige Weise (→ Flaneur) musiziert. Marc PeschkeTwie TischtennisReptilien und Tischtennis haben kaum etwas gemeinsam. Trotzdem: Die bekannteste Tischtennismarke in Zentraleuropa heißt Schildkröt. Die Schläger, Bälle, Tischtennistische – sie alle ziert eine Schildkröte als Logotier. Und die Firma selbst bezeichnet sich „als Erfinder der Tischtennisbälle“. Nach der Gründung 1889 wurden in der Mannheimer Fabrik durch eine selbst erfundene Blas-Press-Methode bald auch Tischtennisbälle hergestellt. Die Tönung und Musterung (→ Zerbi) der Zelluloid-Produkte habe an den Panzer der Schildkröte erinnert. Aber auch wenn einige Profis, wie der frühere Olympiasieger Jan-Ove Waldner, auf Schildkröt-Equipment setzen: Es wirkt schon komisch, eine Tischtennismarke so zu benennen. Der Sport ist rasant, von Richtungswechseln geprägt und erinnert wirklich gar nicht an das behäbige Tier. Ben MendelsonWwie WinterstarreWie wäre es mit einer Schildkröte im Kühlschrank? Das mag erst einmal ungewöhnlich klingen, für manche Besitzer einer Europäischen Landschildkröte (→ Zerbi) ist es ein alljährliches Ritual. Der Grund ist simpel: Der Kühlschrank bietet mit seiner kühlen, steuerbaren Temperatur und dunklen Umgebung einen idealen Ort zum Überwintern der Tiere. Um die kalten Wintermonate gut zu überstehen, verfallen die wechselwarmen Panzerträger in eine Art Energiesparmodus oder, korrekt benannt: in eine Winterstarre. Sie können dabei wichtige Funktionen wie ihren Stoffwechsel und ihre Atem- oder Herzfrequenz auf ein Minimum reduzieren. In diesem Zustand verweilen sie dann drei bis fünf Monate und leben von ihren Reserven. Natürlich ist es irgendwie befremdlich, eine starr gewordene Schildkröte neben Butter, Käse und Joghurt liegen zu haben, weshalb die Besitzer gerne zu einem separaten Kühlschrank greifen und die Tiere dort in einer passenden Box in Ruhe überwintern lassen. Überraschte Blicke von Gästen, die sich mal eben noch ein Bier holen, bleiben dann leider aus. Liz Jacobs Zwie ZerbiWie sie in den Gemüsegarten meiner Großmutter gekommen war, blieb ihr Geheimnis. Dort im Dorf gehörte sie niemandem, die kleine Landschildkröte, die wir Enkel schließlich zu uns nach Hause nahmen. Wir nannten sie Zerbi, eine Koseform des Höllenhundnamens. Von einem Höllenhund hatte Zerbi allerdings nichts. Sie war zwar schön gezeichnet, aber langweilig, und ihre kleinen, leer blickenden Echsenaugen lösten anders als die grünen unseres schwarzen Katers kaum affektive Regungen in mir aus, sodass Pflege und Fütterung schnell an meiner verantwortungsvollen großen Schwester hängenblieben. Zerbi wohnte winters in einer Obstkiste im Heizungskeller (→ Winterstarre), sommers im alten Sandkasten im Garten. Wie lange, kann ich nicht mehr sagen, ein legendäres Schildkrötenalter war ihr jedenfalls nicht vergönnt. Beate Tröger