A
Auer Dult Ich mag den Weihnachtsbaum, den niemand will, den kleinen, krummen in der Ecke, lieber als den schönen mit ausladenden Ästen, und ich mag dreibeinige Straßenhunde, und die, die zum Friseur gehen, mag ich aus Prinzip nicht. Ich mag das Oktoberfest nicht, das überteuerte, Touristen-, alkohol- und klischeeüberladene, aber ich liebe die Auer Dult. Dreimal im Jahr werden die wenigen Buden des kleinen Jahrmarktes auf dem Mariahilfplatz hochgezogen, ein kleines Riesenrad, der obligatorische Autoscooter, Bratwurst und Schokofrüchte, schon hat man den Platz umrundet.
Daneben die eigentliche Dult, einer der ältesten Märkte Europas, der angeblich größte Geschirrmarkt der Welt: Meist kuriose Gestalten bieten alles an, was aus Porzellan und Keramik gefertigt werden kann, dazwischen antiquarische Fundstücke und Gebrauchsgegenstände von Nachttopf bis Pilzbürste, ein Besuch in einer anderen, wundervoll unmünchnerischen Welt. Lena Gorelik
B
Bankerviertel Wenn Besucher erst mal das Frankfurter Bahnhofsviertel überwunden haben, benötigen sie dringend ein Antidot des glänzenden Kapitalismus (➝ Rüsselsheim). Dieser wirft hier immer größere Schatten und pflockt – wie eine nimmersatte Dehnungsfuge – Keile in die Gesellschaft. Ein Freund aus Bangkok musste letztens kichern, als ich ihm aus der Entfernung unsere Skyline zeigte; es ist für ihn eher ein „Versuch einer Skyline“, als müsse da Peter Handke noch ran.
Ich liebe die Türme. Wenn ich sie aus dem ICE bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof erblicke, bin ich jedes Mal wieder entzückt. Wenn man die Neue Mainzer Straße entlangprescht, wo immer Schatten herrscht, und kurz das Gefühl hat, im Big Apple zu sein. So schön ein Balkon im 50. Stock (➝ Hotel) ist, der Blick auf unsere Skyline ist tausendmal schöner. Jan C. Behmann
F
FC Union In den 1990er Jahren gab es in vielen Kneipen und Büros Ostberlins einen Zettel an der Wand, auf dem stand: вер даз лезен канн, изт кеин доофер весси! Menschen, die nie Russisch in der Schule hatten, blieben außen vor. Ähnlich ist es mit dem Akronym U.N.V.E.U. Nur verbirgt sich dahinter keine Beleidigung, wie im Fall des auf Kyrillisch geschriebenen deutschen Satzes, sondern ein Zuhause, auch Wohnzimmer genannt, und in ihm eine Mannschaft, die mehr können muss als Fußball spielen, der 1. FC Union Berlin.
Jenseits vom Ost- oder Arbeitermythos, der dem Verein anhängt, hat Union noch eine ganz andere Funktion. Die Spiele sind die Konstante im Leben der Fans, für einige die einzige. Die gesamte Existenz ist nach der Wende ins Wanken geraten, aber die „Alte Försterei“ blieb ein verlässlicher Ort. Und jedes Heimspiel wird das Rätsel aufgelöst: UND NIEMALS VERGESSEN, EISERN UNION. Annett Gröschner
Noch mehr Geschichten in: Alles auf Rot: Der 1. FC Union Berlin, Jan Böttcher, Frank Willmann (Hg.), Blumenbar 2017, 240 S., 18 €
G
Grünes Band Das gelbweiße Buschwindröschen wächst nur in Leipzig. Die natürliche Kreuzung ist ein hübsches Symbol für das Beste an der Stadt, das bei allen Berlinvergleichen untergeht. Mittendurch zieht sich der Auwald als grünes Band und bringt Wildnis ins urbane Gepräge. Er zählt zu den größten Auwaldlandschaften Europas und hat die Auswüchse der Industrialisierung (➝ Ruhrpott) überlebt. Mit der Wende fielen zwar die Fabrikjobs weg, dafür geht‘s der Umwelt saugut. Wer braucht schon Arbeit bei solcher Naherholung? Selbst die Wildkatze ist zurück, schnuppert am Buschwindröschen, planscht in einem der 176 Gewässerkilometer. Denn Wasserstadt ist Leipzig auch. Tobias Prüwer
H
Hotel Von Karl-Marx-Stadt (➝ Pirmasens) zu schwärmen, wäre eine schamlose Lüge. Jedenfalls bis zu dem Moment, an dem ich es für immer verließ.
Ein paar Mal im Jahr fahre ich in die ehemalige Heimatstadt, den Papa im Pflegeheim besuchen und – wenn es sich ergibt – mit alten Bekannten einen drauf machen. Einmal übernachtete ich bei so einer Gelegenheit im ehemaligen Interhotel Kongress, dem höchsten Gebäude der Stadt. Das wollte ich schon als Kind. Vom 14. Stock des kaninchenstallgroßen Zimmers hatte ich einen prima Blick auf den berühmten Karl-Marx-Kopf. Und nicht nur dieser Blick war mittlerweile viel gnädiger. Elke Allenstein
K
Köln Köln ist mehr als eine Stadt, es ist ein Lebensgefühl. Ob der 1. FC Köln nun wieder auf- oder abgestiegen ist, die Stimmung ist einzigartig im Stadion. Sobald die Vereinshymne „Mer stonn zo dir, FC Kölle“ erklingt, ist das ganze Theater im Verein, sind die ganzen Inkompetenzen in der Vereinsführung (➝ FC Union) vergessen, und man träumt völlig irrational schon von der nächsten Meisterschaft. Niemand Besseres als der kölsche Bob Dylan, Wolfgang Niedecken, kann das kölsche Lebensgefühl in Worte fassen:
„Wat für en Stadt, wat für e’ Panorama!/ Die Bröcke, dä Dom, die Jivelle vun dä Altstadt./ Nä, wie schön! Nä, wat für en Stadt!/Sentimental?. Na un, mir stonn dozo. Uns ess dat ejal, och wenn et uns selvs nit kloor ess, wo dat wohl eijentlich draan litt. (...)/ Die Lück he sinn stolz op irjendjet Nebulöses. Jemütlich, bekloppt, verklüngelt un restkatholisch.“ Dat is Kölle, auch für mich als kölscher Muslim. Eren Güvercin
O
Osten Haben Sie mal die Erfahrung gemacht, dass die Kinder im Osten öfter lachen? Die Butter noch mehr nach Butter schmeckt? Der Wind von Osten frischer weht? Nicht? Dann waren sie noch nicht da. Klar, als doppelter Ossi habe ich da leicht reden. Mütterlicherseits aus Weimar: Bratwurst, grüne Hügel, Goethe. Väterlicherseits aus Stutterheim: Ziegeneintopf, noch grünere Hügel, Nelson Mandela. Stutterheim liegt an der südafrikanischen Ostküste. Südafrikanische Ossis sind herzlich, jeder mag sie. Deutsche Ossis sind spröde, latent rassistisch und, nun ja, nicht ganz so beliebt.
Lassen Sie uns lieber über etwas Angenehmes sprechen: Integration. Denn: Auch Sie können Ossi werden. Lektion 1: Eine gute Bratwurst kommt aus Apolda, Ziegeneintopf muss einen Tag schmoren. Lektion 2: Mandelas Vorname ist Rolihlahla und hinter Goethe und Schiller steht ein Baumstamm. Als Lektion 3 empfehle ich Im Osten von Kai Niemann. Mir sehn uns. Thembi Wolf
P
Pirmasens Mit dem Fuß hast Du auf den Teppich gestampft, damit ich hochkomme und auf Wiedersehen sage. Ich saß steif bei Deinen Eltern unten, der Zug ging gleich. Den dumpfen Klang vergess’ ich nicht, Dich und die Stadt nicht, ich Zugezogener, Kurzgebliebener, Weggezogener, Immer-Wieder-Heimkehrer. Wo in den 1980er Jahren die Zeitung Weihnachtsgrüße des ersten Puffs am Platz druckte: Auch die Damen lassen grüßen.
Wo Hoyna Tsiyäunas weißer Hund immer am Ende der Straße lag. Das Schloss, in dem wir erwachsen wurden, hätte in Kreuzberg stehen können, doch wir hatten ein echtes Mittelgebirge. Bärmesens, Dir ging’s mal besser. Bärmesens, man redet schlecht von Dir. Bärmesens, das ändern wir. Mladen Gladić
R
Rüsselsheim Bis heute war noch niemand, den ich persönlich kenne, in Rüsselsheim. Auch ich nicht. Und doch könnte meine Verbundenheit mit und meine Dankbarkeit für diese Stadt unmöglich größer sein, stand sie doch die gesamte Kindheit und Jugend hindurch für maximales Vertrauen.
Weil man im Ruhrgebiet so gern Auto fährt, war man in meiner Bochumer Heimat immer stolz darauf, über ein Opel-Werk zu verfügen. Die halbe Stadt arbeitete dort, alle verdienten gut, sogar die Faulen. Wenn es irgendein Problem gab, lautete die Antwort immer: „Da kümmern die sich in Rüsselsheim drum.“ Dort ist bekanntlich der Firmensitz. Irgendwann kümmerten sie sich in Rüsselsheim nicht mehr darum. Dann war Opel plötzlich weg.Timon Karl Kaleyta
T
Taxiteller Je ein Drittel Pommes, Currywurst und Gyros, mit Mayonnaise und Zaziki bauschaumartig auf einem überfüllten Plastikgeschirr verklebt: Der Taxiteller ist die kulinarische Dreifaltigkeit des Ruhrgebiets (➝ Rüsselsheim). Eine Currywurst-Pommes mag satt machen, ein Gyrosteller den Hunger stillen. Aber erst die klebrige Imbissfusion des Lieblingsgriechen verspricht den transzendentalen Erfüllungszustand, den man „Taxikoma“ nennt. In Restdeutschland muss man sich oft für die Widerwärtigkeit des Taxitellers rechtfertigen – und kann erst spätabends zur Taverna schleichen, um die fassungslose Bedienung zu missionieren. Zu Hause knurren die Bäuche eben anders. Simon Schaffhöfer
W
Wendland Im Wendland ist die Welt noch in Ordnung. Jeder hat und hatte seine Aufgabe: Autonome blockieren den Castortransport, Polizisten prügeln ihn frei. Bauern verarzten die Autonomen, die Autonomen bauen an der Freien Republik Wendland, bis der Castor wieder rollt. Nun strahlt der Atommüll im Zwischenlager Gorleben friedlich vor sich hin, die Atomkraftgegner heißen Klimaaktivisten und sammeln sich lieber in den Kohlegruben des Rheinreviers. Und im Wendland? Geht alles seinen Lauf.
Wenn ein Banner für die kurdische YPG aus dem Gasthof Meuchefitz gehängt wird, kommt die Polizei vorbei und holt es sich. Wenn die Polizei sich ein Banner aus dem Gasthof holt, kommen die Autonomen zum örtlichen Staatsschutzbeamten Olaf Hupp und singen ihm ein Ständchen. Wenn die Autonomen dem örtlichen Polizisten ein Ständchen singen, werden sie auf ihrem Heimweg von der Polizei verprügelt. Und der Müll strahlt noch eine Million Jahre. Stella Bellanger
Z
Zermatt Von klein auf hegte ich hohen Bergen gegenüber ein Misstrauen. Sie machen den Menschen klein, wenn er unten steht, sie lassen ihn größenwahnsinnig werden, wenn er den Gipfel bestiegen hat. Insofern kann man es als Fügung betrachten, dass ich am Rande des einzig wirklichen flachen Gebiets der Schweiz geboren und aufgewachsen bin: dem großen Moos, das wiederum ein Teil des Seelands ist. Begrenzt wird das Seeland im Westen vom Jura, der im Gegensatz zu den Alpen nicht zackig ist, sondern sich mit Hochplateaus schmückt, also das flache Land gleichsam auf eine höhere Ebene hebt. Friedrich Dürrenmatt, der zwar im Emmental geboren wurde, in der Bilderbuchschweiz also, hat dann selbst am Jurarand gewohnt, über Neuchatel, einer Stadt, die ihn langweilte. Warum nur? Nun, weil er auf das Seeland schauen konnte. Michael Angele
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